Kapitel 99

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"Gemma?", fragte Martin leise und rüttelte leicht an ihrem Arm. "Gem, wach auf!", flehte er und konnte nicht glauben was passiert war. Gerade hatte sie noch mit ihm gesprochen, aber dann war das Piepen des EKGs laufend langsamer geworden und nun konnte er nur diesen anhaltenden Ton hören.
"Gem, Hey!"
Das er eigentlich hätte sofort handeln müssen daran dachte er in diesem Moment nicht. Als Arzt wusste er eigentlich genau was er jetzt tun musste, aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Sie hatte doch gerade noch mit ihm geredet und dann waren ihre Augen einfach zugefallen. Ihr Kopf war zur Seite gekippt und eine letzte Träne bahnte sich ihren Weg über ihre ungewöhnlich blasse Wange.
Der laute anhaltende Ton des EKGs war für Martin wie ein harter Schlag in die Magengegend.
Davon ahnten Lisbeth und Sarah draußen im Gang nichts, bis plötzlich Chaos ausbrach. Denn auf einmal rannten zwei Schwestern und Alexander an ihnen vorbei in das Zimmer vor ihnen.
Martin wurde plötzlich von Gemma weg gezogen und eine der Schwestern drückte ihm Kira in die Arme die lauthals zu schreien begann.
"Asystolie!", rief eine der Schwestern. "Herzalarm!", lautete Alexanders Anweisung und die Schwester betätigte einen Knopf der den Alarm auslöste. "Martin, komm raus hier!", sagte Alexander bestimmt. "Ich gehe hier nicht weg!", schrie Martin außer sich. "Wir kümmern uns um sie, denk an die Kleine!", versuchte Alexander es erneut. Aber es half nichts.
Weitere Leute stürmten ins Zimmer die alles für eine Reanimation vorbereiteten. Martin sah zu, wie ein Reanimationsbrett unter Gemmas Körper geschoben wurde und nahm die Worte seines Freundes kaum mehr wahr. "Was ist da drin los?", fragte Lisbeth panisch. "Ich seh' nach, bleiben sie hier sitzen!", entgegnete Sarah entschlossen und stürmte ebenfalls durch die Tür in dem das Reanimationsteam verschwunden war.
Wie erstarrt blieb sie erstmal stehen, denn sofort fiel ihr das EKG ins Auge das eine durchgezogene Linie zeigte. Hektisch lief das Personal herum und daneben sah sie Martin stehen, vor ihm Alexander der auf ihn einredete. Und nicht zu vergessen Kira mittendrin, was Sarah dabei half wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Die junge Ärztin stürmte ebenfalls ins Intensivzimmer und versuchte erstmal auszublenden, wer da wiederbelebt werden musste. Zuerst musste sie Martin dazu bewegen aus dem Zimmer zu gehen, denn Alexander musste nun wichtigeres tun. "Martin, du musst raus gehen!", versuchte es dieser gerade nochmal. "Ich werde sie nicht alleine lassen!", herrschte Martin ihn an und Kira schrie noch lauter. "Alexander, ich mach das! Ich mach das, kümmer dich um Gemma!", mischte Sarah sich ein und Alexander zögerte kurz, ging dann aber zur leblosen Patientin.
"Martin, hör mir zu!", befahl Sarah ihrem älteren Kollegen und auch dem Freund ihrer besten Freundin. "Du kannst hier nichts für sie tun, aber für die Kleine kannst du etwas tun und zwar für sie da sein! Schau sie dir an, wie verstört sie ist!" Aber Martin wollte nicht hören. "Ich lasse sie nicht alleine!", stellte er klar. "Du lässt sie nicht alleine, nicht komplett. Sie würde auch nicht wollen, dass du das sehen musst! Gemma würde das nicht wollen, verstehst du?"
Doch anstatt mit nach draußen zu gehen, übergab Martin Kira an Sarah. "Bring du sie raus, ich komme nicht mit!", hielt er an seiner Entscheidung fest. Inzwischen hatte Alexander einen Pfleger bei der Reanimation abgelöst. Er führte ununterbrochen Kompressionen aus, während eine Schwester die Beatmung mittels Ambubeutel übernahm. Noch immer war die Nulllinie zu sehen. Aber das Personal war so aufeinander eingespielt, dass jeder wusste was er zu tun hatte.
"Martin, kommt mit!", bat Sarah nochmals, aber erzielte wieder keinen Erfolg. "Bring die Kleine hier raus, ich komm klar!", lauteten seine Anweisungen. "Ich lasse sie jetzt nicht alleine hier, ich komme schon klar!" Er wiederholte sich ständig was zeigte das er gerade nicht wirklich bei Verstand war, aber Sarah musste letztendlich nachgeben. "Okay, aber greif nicht unüberlegt ein!", sprach sie ihm ins Gewissen. Wobei sie glaubte das er nur da stehen bleiben und selbst nicht einmal etwas tun wollte. Bei ihr sein, sie sehen, das war wohl das was er gerade wollte. Und er war Arzt, er wusste wie er sich verhalten musste. Also ging Sarah nur mit Kira nach draußen, die unruhig in ihren Armen hin und her zappelte.
Als Lisbeth Sarah und die Kleine sah, hörte sie sofort auf im Gang auf und ab zu laufen. Das hatte sie nämlich die wenigen Minuten über getan, während Sarah ins Zimmer gegangen war. "Was ist jetzt?", wollte Lisbeth sofort wissen, aber Sarah lief einfach an ihr vorbei um sich mit Kira zu setzen. Sie hätte sich nicht mehr länger auf den Beinen halten können. Wie ferngesteuert versuchte sie das Baby in ihren Armen zu beruhigen, was nichts zu nützen schien. Ihr liefen nun selbst die Tränen übers Gesicht.
"Was ist denn los da drin?!", fragte Lisbeth nun noch einmal. "Sie.. sie hat einen Herzstillstand!", stotterte Sarah. "Um Gottes Willen!", entfuhr es Lisbeth und sie musste sich ebenfalls erstmal hinsetzen. "Martin.. Er wollte nicht mit raus. Er wollte drin bleiben, ich hab nur die Kleine mit raus genommen. Sie konnte da drin doch nicht bleiben!" Lisbeth nickte und legte Sarah eine Hand auf die Schulter. Die beiden Frauen fühlten sich in diesem Moment hilflos.
Und Martin ging es nicht anders. Bangend sah er dabei zu, wie sein Kollege und das Pflegepersonal um das Leben seiner Freundin kämpften. Er konnte nur da stehen und nichts tun, das war alles. Denn tief im inneren wusste er, dass Alexander und alle anderen alles taten was in ihrer Macht stand. Gerade würde er nur im Weg stehen, wenn er versuchen sollte einzugreifen. Also blieb er stehen wo er war.
"Eins, zwei, drei, vier, fünf.." murmelte Alexander immer leise vor sich hin und zählte damit die Kompressionen die er ausübte. Aber Gemmas Herz schlug nach wie vor nicht. "Komm schon!", nuschelte er. "Komm schon, komm schon, tu uns das nicht an!" Langsam ließ die Kraft in den Armen merklich nach. "Übernehmen Sie kurz!", wies er den Pfleger von gerade an. Er musste sich dringend kurz erholen, denn eine Reanimation ohne das genügend Kraft ausgeübt wurde brachte überhaupt nichts.
Plötzlich begann das EKG wieder zu piepen, aber nicht etwa weil der Herzschlag wieder eingesetzt hatte. "Kammerflimmern!", stellte Alexander sofort fest. "Her mit dem Defi!", rief er und sofort wurden ihm die zwei Paddles übergeben.
"Laden auf 200!", lautete Alexanders nächste Anweisung. "Geladen!", gab ihm die eine Schwester Bescheid und er setzte die Paddles auf Gemmas Oberkörper. "Weg von der Patientin!", warnte Alexander vor und gab dann den ersten Schock ab. Martin sah fassungslos zu, wie sich Gemmas Oberkörper aufgrund des elektrischen Schlages hob und wieder senkte. Aber es veränderte sich nichts, das EKG gab immer noch diesen für ihn beinahe ohrenbetäubenden lang gezogenen Ton von sich. "Nochmal laden, wieder 200!", rief Kahnweiler und setzte die Paddles wieder an. "Achtung und.. weg!" Erneut wurde Gemmas Körper von einem Stromschlag durchgeschüttelt und diesmal geschah das, was geschehen sollte. Das Kammerflimmern hörte auf.
"Wieder Asystolie, Herzmassage weiterführen!", befahl Alexander und übergab die Paddles wieder an die Schwester hinter ihm. Plötzlich stürmte nun auch Professor Böning herein, den man zusätzlich alarmiert hatte. Dies hatte er ausdrücklich verlangt. "Was ist passiert?", fragte er Martin, da alle anderen für ihn gerade nicht greifbar waren. "Sie.. sie.. Sie hat noch mit mir geredet.. und dann.. Dann ist sie einfach weg gekippt!", stotterte Martin. "Sie sollten raus gehen!", meinte der Chefarzt bestimmt. "Nein, ich sollte.. Sollte bleiben. Ich will nicht gehen.. ich bleibe hier, bei ihr!"
Böning gab schließlich nach. "In Ordnung. Aber behalten Sie so gut es geht die Nerven ansonsten schmeiße ich Sie raus!" Er musste so streng mit Martin reden, damit er überhaupt noch etwas verstand. Denn er sah den Professor gar nicht mehr an, sondern seine Geliebte bei der der anwesende Pfleger nun wieder die Herzdruckmassage begonnen hatte. "Lassen sie mich da mal ran!" Professor Böning schaffte so alle ein wenig aus dem Weg und übernahm selbst die Herzmassage. "Mach keinen Scheiß, Kleine!", murmelte er und sah zwischen dem Gesicht seiner Patientin und dem EKG hin und her. Die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter machte es dem Chefarzt nicht gerade einfacher bei der Sache zu bleiben, aber gleichzeitig spornte es ihn auch an.
Es waren nun schon einige Minuten vergangen und ob Gemmas Herz wieder anfangen würde zu schlagen wusste in diesem Augenblick keiner.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt