Am nächsten Morgen war ich schon in aller Frühe aufgestanden, noch bevor die Schwestern zur morgendlichen Kontrolle vorbei kamen. Die ganze Nacht hatte ich schlecht geschlafen, da mir alles weh tat. Aber ich verweigerte jegliche Schmerzmittel und wollte nur noch aus dem Krankenhaus raus.
Meinen Koffer hatte man mir wenigstens her gebracht, das musste wohl dieser Dr. Gruber gewesen sein. Inzwischen war es schon nach sechs Uhr und es klopfte an der Tür. Ich saß angezogen auf meinem Bett, meine Sachen standen gepackt neben mir auf dem Boden. "Frau Morrow, was wird das?", fragte mich die Krankenschwester sofort. "Ich möchte gehen, auf eigene Verantwortung. Sagen sie dem zuständigen Arzt er soll die Papiere unterschreiben, ich warte hier.", stellte ich unmissverständlich klar. "Aber sie können noch nicht gehen, Dr. Kahnweiler kommt frühestens in einer Stunde und Dr. Gruber hat ausdrücklich darum gebeten.." Ich ließ sie nicht ausreden. "Was dieser Arzt angeordnet hat, ist für mich nicht relevant. Ich bin selbst Ärztin und werde wohl selbst wissen, was für mich das Beste ist. Von mir aus warte ich noch bis Dr. Kahnweiler kommt, aber danach werde ich gehen." Die junge Frau nickte daraufhin, bestand aber darauf das ich meine Tabletten nahm. Diese nahm ich widerwillig und sie ging, daraufhin war ich wieder allein.
Inzwischen hatte man mir Krücken zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe ich mich an's Fenster stellen konnte. Plötzlich fiel mir ein, dass ich vielleicht gar keine Unterkunft mehr hatte. Wobei es in Ellmau kein Problem war, ein Zimmer zu bekommen. Ich wollte meinen Urlaub trotzdem wie geplant hier verbringen, aber eben nicht in dieser Klinik. Als Dr. Kahnweiler eine Stunde später kam, wollte auch er mich überreden zu bleiben. Da er mich aber nicht zwingen konnte, weil ich auf Eigenverantwortung handelte, unterschrieb er die Entlassungspapiere und wenig später wartete ich vor dem Krankenhaus auf ein Taxi, das ich hier her bestellt hatte. Aber stattdessen hielt auf einmal ein grüner Mercedes vor mir an, aus dem natürlich ausgerechnet Dr. Gruber ausstieg.
"Was wollen Sie denn schon wieder von mir?", fragte ich wenig begeistert. "Ich wurde von jemandem angerufen.", antwortete er und nahm ganz lässig seine Sonnenbrille ab. "Achja.. und dieser Jemand ist nicht zufällig dieser Dr. Kahnweiler gewesen?", fragte ich. "Doch, genau der. Woher wissen sie das denn?" Ich setzte ein gespieltes Lächeln auf, mit dem ich ihn ansah. "Ich kann logisch denken, Herr Gruber. Sie haben ihren Kollegen doch auf mich angesetzt, damit er mich besonders im Auge behält."
Zwar dachte ich, dass er es leugnen würde, aber er nickte. "Und damit haben sie vollkommen recht, ansonsten hätte ich von ihrer Entlassung auf Eigenverantwortung nicht so schnell erfahren. Was ich übrigens sehr unklug finde, da sie mindestens noch zwei Tage zur Beobachtung hätten bleiben müssen."
Ich atmete genervt aus. "Ich kann ihre Sorgen schon ein wenig nachvollziehen, aber mir geht es gut. Und wären sie nicht gewesen, wäre ich dort nicht runtergefallen. Aber dadurch lasse ich mir meinen Urlaub bestimmt nicht verderben und den werde ich sicherlich nicht im Krankenhaus verbringen!", stellte ich klar. "Sie wollen hier also Urlaub machen, ja? Für mich sah es eher nach einer überstürzten Flucht aus, so wie ihr Koffer gepackt war.", meinte er nun. "Sie haben doch nicht ernsthaft in meinen Sachen herum geschnüffelt!", rief ich empört. "Irgendwie musste ich ja herausfinden, wer sie sind. Und nachdem ich ihren Pass vorne im Auto nirgends gefunden habe.. übrigens steht das bei mir zu Hause.", informierte er mich und nahm meinen Koffer.
"Was wird das jetzt?", fragte ich gleich. "Ich bringe sie zu ihrer Unterkunft, was denn sonst? Aber keine Angst sie werden nicht bei mir wohnen, sondern in einer sehr gemütlichen Pension einer guten Freundin von mir. Irgendwie muss ich mich ja erkenntlich zeigen, nachdem ich an ihrer misslichen Lage schuld bin und sie nicht hier bleiben wollen." Er verstaute mein Gepäck im Kofferraum und öffnete mir dann die Beifahrertür. "Oder wollen sie wirklich noch ewig hier stehen und auf ein Taxi warten? Nun kommen sie schon, ich helfe ihnen auch." Kurz überlegte ich, nahm das Angebot aber dann an. Dr. Gruber half mir in's Auto, stieg dann ebenfalls ein und fuhr los.
Eine Weile fuhren wir schweigend umher, ich blickte müde aus dem Fenster und beobachtete die vorbeirasende Landschaft. Zwar hatte ich die Tabletten vorhin genommen, hatte aber trotzdem ziemliche Schmerzen und mir war irgendwie total schlecht. 'Das liegt an der Gehirnerschütterung.', sagte mir mein medizinischer Verstand und ich seufzte leise. "Alles in Ordnung?", fragte Dr. Gruber und hörte sich leicht besorgt an. "Mhh.", machte ich geistesabwesend. "Das hat sich aber nicht so überzeugend angehört.", meinte der Arzt und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er mich von der Seite musterte. "Es ist wirklich alles in Ordnung, ich habe mir meinen Urlaub aber wirklich anders vorgestellt. Eigentlich wollte ich wandern und klettern gehen, nur kann ich das jetzt wahrscheinlich vergessen.", lenkte ich etwas vom Thema ab und er spielte zum Glück mit.
"Und das nur, weil ich sie so erschreckt habe. Das tut mir leid.", entschuldigte er sich aufrichtig. "Was passiert ist, ist passiert und rückgängig machen lässt es sich nicht. Vielleicht hätte ich mich auch nicht einfach zu nah an die Kante wagen sollen.", antwortete ich nachdenklich. "Allerdings, damit haben sie mir nämlich einen großen Schrecken eingejagt. Wie lange wollen sie denn in Ellmau bleiben?", wollte er nun wissen. "Zwei Wochen, länger konnte mir mein Chef leider so kurzfristig nicht gewähren.", log ich. Doktor Gruber lachte leicht. "Immer diese Vorgesetzten, das Problem habe ich schon eine Weile los und bereue es nicht." Das verwirrte mich etwas.
"Sie arbeiten also nicht in dem Krankenhaus?", fragte ich. "Nein, ich habe meine eigene Praxis.", erzählte er stolz. "Die hätte ich manchmal auch gern.", gab ich zu. "Sie sind auch Ärztin, richtig?" Ich nickte. "Richtig. Aber nachdem ich wegen ihnen im Krankenhaus gelandet bin, sie mich jetzt auch noch herum kutschieren und ich das dumpfe Gefühl habe das ich sie so schnell nicht mehr los werde, wollen wir nicht langsam 'Du' zueinander sagen?" Doktor Gruber grinste und streckte mir, trotz dass er am Fahren war, die Hand hin. "Ich bin der Martin." Ich schmunzelte ebenfalls und gab ihm die Hand. "Der Martin bist du, na dann. Ich bin Gemma." Aber das wusste er bestimmt bereits.
"Ich weiß.", erwiderte er tatsächlich. "Hab ich mir schon gedacht.", meinte ich und musste plötzlich lachen. "Was ist?", fragte Martin. "Nichts.. es ist nur das du schon mehr über mich weist, als mir lieb ist. Und den Großteil hast du durch Schnüffeln herausgefunden, würdest einen guten Detektiv abgegeben." Nun lachte auch er. "Naja, irgendwie musste ich etwas über sie erfahren. Ich wandle meine Praxis in eine Detektei um, das wär's doch!", machte er sich über meine Aussage lustig.
"Aber dein Name gefällt mir, hört man nicht oft." Ich lächelte, auch wenn ich gerade an meine Familie denken musste. "Danke, er ist auch etwas besonderes.", antwortete ich nachdenklich. "Warum?", fragte er gleich. "Du bist sehr neugierig, Martin.", stellte ich belustigt fest. "Es interessiert mich eben.", verteidigte er sich. "Gemma bedeutet so viel wie "Edelstein" und mein zweiter Vorname Catherine so etwas wie "die Reine". Meine Mutter hat ihn ausgesucht, weil sie laut ihr so gut zusammen passen. Ich war "der reine Edelstein" der Familie.", erklärte ich ihm nun die Bedeutung und er lachte. "Ich weiß, das ist absolut kitschig.", sagte ich und verdrehte die Augen. "Nein, nein. Das ist irgendwie süß, mir gefällt's. Deine Mutter liebt dich wohl sehr, wenn sie dir so einen besonderen Namen gegeben hat." Das versetzte mir augenblicklich einen Stich in's Herz, da die Realität anders aussah. "Vielleicht.", antwortete ich wehmütig und Martin hielt vor einem Gebäude an.
"Wir sind da.", offenbarte er mir und stieg aus, um mir die Tür zu öffnen. Das Aussteigen erwies sich noch schwerer als das Einsteigen vorhin, aber Martin half mir wieder. Er holte auch die Krücken aus dem Auto, die auf dem Rücksitz lagen und danach auch gleich meinen Koffer.
"Und du bist dir sicher, dass hier noch was frei ist?", fragte ich skeptisch, hinsichtlich auf die vielen Leute. "Ganz sicher, ich kenne die Besitzerin." Und kaum hatte er das ausgesprochen, kam schon eine blonde Frau mit Dirndl heraus. "Hallo, Martin.", begrüßte sie ihn freudig und umarmte ihn. "Hallo, Susanne.", begrüßte er sie ebenso erfreut. "Ich hab dir jemanden mitgebracht, das ist Gemma. Und Gemma, das ist Susanne Dreiseitl."
Nachdem wir nun auch Bekanntschaft miteinander gemacht hatten, kamen wir nun zum Wesentlichen. "Was kann ich für euch beide tun?", fragte Susanne. "Gemma braucht ein Zimmer und da dachte ich, bei dir ist sie am besten aufgehoben. Hast du noch was frei?" Susanne blickte zwischen uns hin und her, dann nickte sie. "Ja ich hätte noch ein Zimmer frei.", antwortete sie dann und irgendwie beruhigte mich das gerade sehr. Aber die Frage war, ob ich mir diese Pension überhaupt leisten konnte. "Das freut mich zu hören, aber wie viel würde mir das für zwei Wochen kosten? Es sieht schon von außen sehr einladend aus, aber ich bezweifle das es auch in mein Budget passt.", gab ich ehrlich zu und sofort redete Martin dazwischen. "Darum kümmere ich mich schon, keine Sorge.", meinte er. "Das kann ich doch nicht annehmen!", protestierte ich. "Keine Widerrede, Susanne zeig ihr doch bitte das Zimmer."
Diese blickte ihn nur grinsend an. "Muss ich das verstehen?", fragte sie und Martin schüttelte den Kopf. "Nein, musst du nicht.", antwortete er und holte meinen Koffer aus dem Auto. Ein paar Minuten später standen wir vor dem besagten Zimmer, Susanne ließ uns allein und Martin sperrte es auf.
Ich folgte ihm langsam hinein und sah mich um, mir gefiel es auf Anhieb. "Das ist aber schön!", schwärmte ich und setzte mich gleich auf das Bett. Das Laufen mit den Krücken war anstrengend und ich war froh, mich endlich wieder setzten zu können. Martin öffnete ein Fenster, sodass etwas frische Luft herein kommen konnte. "So, das hätten wir. Solltest du noch etwas brauchen..", er holte eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche, "..melde dich einfach hier. Ansonsten sehen wir uns in zwei Tagen zur Kontrolluntersuchung bei mir in der Praxis." Das klang beinahe schon wie ein Befehl.
"Und wenn ich keine besonderen Beschwerden bis dahin habe? Ich bin ein großes Mädchen, ich kann auf mich aufpassen. Und das du das Zimmer bezahlen willst, ist mir auch nicht recht." Ich nahm die Visitenkarte und Martin ging zur Tür. "Entweder du kommst freiwillig oder ich komme dich holen und wegen dem Zimmer diskutiere ich nicht. Ach, übrigens.." Er drehte sich nochmal um. "Willkommen in Tirol!", sagte er lachend und ging.
"Willkommen in Tirol.", wiederholte ich und lachte leicht. "War ja eine ganz nette Begrüßung, die du mir beschert hast.", murmelte ich und hielt mich selbst nun für bekloppt, da ich Selbstgespräche führte.
Langsam ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen und überlegte, ob ich mit dem Gips am Bein wirklich duschen sollte. Da ich aber nichts da hatte, um ihn vor Wasser zu schützen, wäre das ziemlich unklug. Trotzdem nahm ich meine Krücken, stand auf und hievte meinen Koffer auf's Bett. Dann suchte ich mir frische Klamotten heraus und nahm noch eine kleine Tüte mit, die sie mir im Krankenhaus noch mitgegeben hatten. Dort war etwas Verbandszeug zum wechseln drin, da ich meinte ich würde das lieber gern selbst übernehmen.
Das ganze Zeug nahm ich nun mit in's Bad um mir dort wenigstens die Haare zu waschen und um mich auch anderweitig ein bisschen zu säubern. Nachdem meine Haare gewaschen waren und ich mich umgezogen hatte, machte ich vorsichtig das Pflaster an meiner Stirn ab. Die Wunde sah natürlich noch sehr frisch aus und es brannte ziemlich, als ich mit nur etwas Wasser das Blut außenrum entfernte. Danach klebte ich ein neues Pflaster darüber und blickte in den Spiegel. Ich sah kaputt aus, war auch etwas blass um die Nase. Also passte mein Erscheinungsbild zu meiner Gefühlslage.
Vorsichtig legte ich eine Hand auf meinen Bauch und ertastete dort den dicken Verband, den man zum stützen der Rippen angebracht hatte. Dabei kamen schlagartig Erinnerungen hoch, woraufhin sich mein Magen zusammen krampfte. Mir wurde immer schlechter, bis ich mich schließlich auch noch übergeben musste. 'Wieder eine Nebenwirkung der Gehirnerschütterung.', redete ich mir ein und verließ das Bad.
Da ich schon lange nicht mehr auf mein Handy geschaut hatte, holte ich das jetzt nach. Noch mehr Anrufe und Nachrichten von ihm, eine traute ich mich nun zu lesen. 'Ich werde dich finden!', waren die drohenden Worte. Schnell schaltete ich das Handy aus und entnahm den Akku. Dann legte ich mich in's Bett und kuschelte mich in die Decke. 'Du musst dir eine neue Nummer zulegen. Er wird dich nicht finden.', dachte ich noch und schlief, erschöpft wie ich war, ein.