Kapitel 6

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Ich hatte am Vormittag keinerlei Termine und konnte deshalb ausschlafen. Gegen elf Uhr wachte ich auf und machte mich gemächlich zurecht.
Mein Handy war nun wieder voll aufgeladen und einsatzfähig, mit Herzklopfen schaltete ich es ein und legte es neben mich auf das Bett. Nacheinander wurden die nicht empfangenen Nachrichten zugestellt, es wollte gar nicht mehr aufhören. Auch die verpassten Anrufe, Mails und Mailbox-Nachrichten wurden nun geladen.
Als es endlich aufgehört hatte zu vibrieren, nahm ich es wieder an mich und öffnete zunächst WhatsApp. Hier hatten sich unter anderem eine von meinen ehemaligen Kolleginnen und eine gute Freundin gemeldet, die beide wissen wollten wo ich abgeblieben war. Ich schrieb nur zurück, das es mir gut gehe und sie sich bitte keine Sorgen machen sollten. Auf die anderen Nachrichten antwortete ich erstmal nicht, auch die Mails ignorierte ich und sah mir als nächstes die ganzen SMS an. Hauptsächlich waren diese von Stefan und da es sich bestimmt nur um Drohungen handelte, las ich sie erst gar nicht.
Plötzlich stieß ich auf eine Nachricht von Laura, meiner ehemaligen besten Freundin, mit der Stefan mir fremd gegangen war: 'Hallo Gem.. ich weiß nicht wo ich anfangen soll, es tut mir alles so unendlich leid! Das mit Stefan war ein Fehler und ich würde gerne mit dir reden, aber bei euch zu Hause ist niemand und der Briefkasten quillt fast über. Wo bist du? Bitte melde dich, Laura.'
Das war nicht die einzige von ihr und die vier anderen enthielten ungefähr die gleichen Worte. Natürlich reagierte ich darauf ebenfalls nicht und die Nachrichten auf meiner Mailbox hörte ich auch nicht ab.
Als ich mein Smartphone gerade wieder weglegen wollte, kam eine neue SMS an. Die Nummer war nicht eingespeichert, aber ich las sie trotzdem: 'Guten Morgen, Gemma. Ich hoffe, du hast gut geschlafen und dir geht es besser. Auf der Heimfahrt ist mir übrigens aufgefallen, dass ich meine Jacke bei dir gelassen habe. Jedenfalls wollte ich dir nur mitteilen, dass Susanne dich später zum Gruberhof bringt, damit du dein Auto holen kannst. Zu der vereinbarten Zeit hab ich Mittagspause, also sehen wir uns. Bis später, Martin.'
Diese Nachricht zauberte mir wieder ein Lächeln ins Gesicht und sofort schrieb ich zurück. Martin war in den letzten Wochen wirklich zu einem guten Freund für mich geworden, er hat einfach schon viel für mich getan. Anfangs hatte er das Zimmer bezahlt, da mein Geld höchstens für eine Woche ausgereicht hätte. Stefan hatte mir schon vor längerer Zeit meine Kontokarte abgenommen und die hatte ich beim Durchsuchen unserer Wohnung nicht finden können, sodass ich bei meiner fluchtartigen Abreise nur das noch übrig gebliebene Geld aus der Haushaltskasse mitnehmen konnte. Das waren ungefähr noch 200€ gewesen, nicht die Welt, aber für eine billige Absteige hätte es gelangt. Nun saß ich in diesem wunderschönen Zimmer, wo Susanne mich mittlerweile vorübergehend kostenlos wohnen ließ. Sobald mein Leben wieder in geregelten Bahnen verlief, würde ich ihr und auch Martin alles zurückzahlen.
Ich holte meine Tasche, steckte mein Handy und die Schlüssel ein und ging nach unten. Da draußen kein Platz mehr war, setzte ich mich an einen freien Tisch im Gastraum und gleich kam Susanne zu mir. "Guten Morgen. Möchtest du noch etwas frühstücken, bevor wir fahren?", fragte sie, als wäre es selbstverständlich das ich von ihrem Plan schon wusste. "Gerne, falls du noch etwas für mich.. für uns übrig hast." Mit 'uns' meinte ich mein Baby und mich, schließlich war ich ja nicht mehr allein. "Klaro, ich bringe euch gleich was.", versprach Susanne und verschwand gleich in Richtung Küche.
Wenig später brachte sie auch schon ein Frühstück, von dem wir definitiv satt werden würden. "Wer soll das denn alles essen?", fragte ich. "Du. Schließlich hast du noch jemanden mit zu versorgen.", erwiderte Susanne und zwinkerte mir zu. Sie wandte sich schon wieder um, als sie plötzlich inne hielt und sich nochmal umdrehte. "Gemma, ich muss dich was fragen.", begann sie zögerlich und klang auf einmal sehr ernst. "Klar, worum geht's?" Sie setzte sich mir gegenüber und beugte sich über den Tisch, damit sie nicht zu laut sprechen musste. "Du warst doch heute Nacht noch mit Martin weg, stimmt's?" Ich nickte leicht. "Als ihr zurück gekommen seid, ist euch da irgendetwas komisches aufgefallen?"
Natürlich fiel mir da sofort der vermeintliche Schatten auf dem Parkplatz ein, aber erstmal wollte ich wissen ob es jetzt gerade relevant für Susannes Anliegen war. "Definiere komisch.", bat ich und nahm mir eines von den Brötchen, um es aufzuschneiden. "Naja, wie soll ich das jetzt erklären.. Einer der Gäste hat mich heute Morgen darauf aufmerksam gemacht, dass er etwas beobachtet hat. Und zwar war er noch auf seinem Balkon gesessen, frag mich bitte nicht warum er das nach Mitternacht noch tut."
Susanne lachte leicht, wurde aber sofort wieder ernst. "Jedenfalls hat er mitbekommen, wie Martin und du zum Gasthof zurückgekehrt seid." Was daran jetzt so komisch war verstand ich noch nicht ganz, aber sie war ja noch nicht fertig. "Als du dann rein gegangen bist und Martin weggefahren war, ist es laut seiner Aussage erstmal kurz still gewesen und danach ist noch jemand aufgetaucht. Dieser Jemand hat wohl nachgesehen, ob die Tür offen ist, war sie aber nicht." Nun wurde es langsam logischer. "Ich hab sie ja auch abgeschlossen, nachdem ich rein bin. Den Schlüssel gebe ich dir natürlich wieder, aber ich dachte es wäre schlauer ihn mitzunehmen. Weil ich habe nämlich auch etwas beobachtet, Martin meint aber ich hätte es mir nur eingebildet.", rückte ich nun mit der Sprache heraus.
"Und was?", fragte Susanne nach. "Ich habe jemanden bei den Autos gesehen, als er sich augenscheinlich geduckt hat.", beantworte ich ihre Frage. "Seltsam. Normalerweise müsste ich ja die Polizei anrufen, aber es wurde ja nicht eingebrochen oder ähnliches." Susanne machte eine kurze Denkpause. "Vielleicht war es nur ein junger Kavalier, der seiner Freundin einen nächtlichen Besuch abstatten wollte.", sagte sie nun scherzhaft. "Könnte sein.", bestätigte ich, glaube das aber nicht so wirklich. "Na gut, dann lasse ich dich jetzt mal in Ruhe frühstücken und dann fahren wir zum Gruberhof."
Darüber war ich ganz froh, ansonsten hätte Susanne mir wohl noch meine Sorge angemerkt. Während ich mein Brötchen aß, dachte ich wieder einmal darüber nach, ob wirklich keiner wusste wo ich war. Ich hatte schließlich keinerlei Hinweise auf meinen Aufenthaltsort hinterlassen, zumindest nicht absichtlich.
Zuerst hatte ich es zwar nicht für möglich gehalten, aber ich verputzte wirklich alles was Susanne mir gebracht hatte. Gleich danach machten wir und dann auf den Weg zum sogenannten Gruberhof, wo Martin zusammen mit seiner Familie wohnte. Ich staunte nicht schlecht, als das Haus in Sichtweite war.
"Ist das der Gruberhof?", fragte ich. "Ja, das ist er.", antwortete Susanne und hielt den Wagen an. Den Mercedes von Martin sah ich nirgends, wahrscheinlich dauerte es in der Praxis doch länger und auch sonst wirkte der Hof verlassen. "Ich muss gleich wieder zurück, vorhin ging es einer Mitarbeiterin nicht gut und in der Küche brauchen sie dringend Unterstützung.", meinte Susanne. "Kein Problem, das schaffe ich hier schon allein und zurück fahre ich ja sowieso mit meinem Auto. Aber ich Danke dir sehr, dass du mich her gebracht hast." Wir verabschiedeten uns voneinander und ich stieg aus, Susanne fuhr sofort davon.
Mir gefiel es hier auf Anhieb, die Aussicht war überwältigend und das Haus sah sehr einladend aus. Aber ich war ja hier um Auto zu holen, was ich auch gleich entdeckte. Als ich gerade hingehen wollte, hörte ich plötzlich wie die Haustür aufging. Ich drehte mich um und erblickte einen Mann, der auf mich zu kam.
"Wer sind sie denn?", fragte er und wirkte nicht gerade begeistert. "Ihnen auch einen guten Tag.", erwiderte ich, da er gleich so unfreundlich zu mir gewesen war. "Ja, Servus. Aber ich habe sie etwas gefragt.", entgegnete der Mann. "Ich bin Gemma und wollte mich hier eigentlich mit Martin treffen, weil ich mein Auto abholen möchte." Der Fremde musterte mich prüfend. "War ja klar, das so eine wie sie den Martin suchen, ich bin sein Bruder Hans. Meinen sie das schwarze dort?" Er zeigte auf das Fahrzeug und ich nickte. "Wird auch Zeit, dass die Karre da wegkommt. Aber wer sagt mir denn, das ihnen der Wagen wirklich gehört?" Hans war mir gegenüber ziemlich misstrauisch.
"Erstens ist das nicht einfach eine Karre, sondern ein Audi A5 Cabriolet und zweitens hätte ich ja sonst nicht die Schlüssel." Um es ihm zu beweisen, holte ich diese aus meiner Tasche und er nickte. "Dann nehmen sie ihr Auto mal mit, ich hab noch einiges zutun. Schönen Tag noch."
Hans lief einfach an mir vorbei. "Ebenfalls.", sagte ich perplex, obwohl er das längst nicht mehr hörte. Keine Ahnung was er für ein Problem gehabt hatte, vielleicht war er heute mit dem falschen Fuß aufgestanden und ließ das jeden merken. Ich ging nun zu meinem Auto und und schloss es auf, um mich hinein zu setzen.
'Hoffentlich springt es an.', dachte ich, als ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte und umdrehte. Wie ich befürchtet hatte, starb der Motor gleich wieder ab. Es war lange genug herum gestanden und nun war anscheinend die Batterie leer. Nochmal versuchte ich es, ohne Erfolg.
"Oh man!", murmelte ich genervt und probierte es ein letztes Mal, wieder nichts. "Kann ich ihnen vielleicht helfen?" Ich blickte auf und sah eine etwas ältere Dame neben der geöffneten Autotür stehen. "So wie es aussieht ist die Batterie leer. Sie können mich nicht zufällig überbrücken?" Ich vermutete, dass die Frau die Mutter von Martin sein musste. "Da hole ich wohl lieber mal den Hans, der kennt sich da glaube ich genauer aus." Frau Gruber lächelte mich an und ging sogleich ihren Sohn holen.
"Will wohl nicht anspringen, aber das haben wir gleich.", meinte dieser und stellte sein Auto neben meines. Mit Hilfe von einem Überbrückungskabel gab er meinem Audi dann Starthilfe und das Problem war gelöst. "Danke.", sagte ich erleichtert und er nickte mir nur kurz zu, bevor er wieder verschwand.
"Der Martin hat heute früh kurz erwähnt, dass jemand wegen dem Auto vorbeikommt. Eigentlich wollte er schon längst da sein, aber da kam bestimmt wieder ein Notfall dazwischen. Wenn sie warten wollen, mache ich ihnen gerne einen Kaffee.", bot mir die Bäuerin an und ich wollte schon zustimmen, als mein Handy klingelte.
"Einen Moment, bitte." Ich setzte mich wieder ins Auto, um in meiner Tasche nach dem bimmelnden Etwas suchen zu können. Es war Martin, der mir erzählte das wirklich noch ein Notfall dazwischen gekommen war und er gerade wieder auf den Weg zur Praxis war. Wir machten aus, das ich ebenfalls dorthin kam. "Mal sehen, wer schneller da ist.", forderte er mich sozusagen heraus. "Ein kleiner Wettstreit, was? Bin dabei, bis gleich.", sagte ich belustigt und legte auf.
"Aus dem Kaffee wird leider nichts, das war Martin. Ich fahre gleich zur Praxis und treffe ihn da, aber vielen Dank für ihre Hilfe." Ohne das mich jemand überbrückt hätte, wäre der Wagen nicht angesprungen. "Gerne und vielleicht ergibt sich ja nochmal die Gelegenheit für eine Tasse Kaffee, sollten sie vielleicht nochmal vorbeikommen." Da mir Frau Gruber total sympathisch war, würde ich Martin und sie bestimmt demnächst nochmal hier besuchen kommen. Hans hingegen musste ich da dann nicht unbedingt begegnen, zumindest wenn er sich immer so unfreundlich gab.
Ich machte die Autotür zu und startete den Motor, der ohne nochmal zu streiken aufheulte. Bevor ich wegfahren konnte, musste ich erstmal drehen und entfernte mich dann immer weiter vom Gruberhof. Zunächst war ich noch etwas vorsichtig, aber mein Bein spielte mit und somit sprach nichts gegen eine schnellere Geschwindigkeit.
Binnen kürzester Zeit erreichte ich die Arztpraxis, jedoch stand Martins Auto bereits dort und er saß grinsend auf der Bank. "Du warst schnell, aber nicht schnell genug!", rief er mir zu und ich ging zu ihm. "Wie kann das sein, dass du jetzt schon hier bist? Ich bin gerast wie eine Irre, um vor dir da zu sein!", meinte ich und setzte mich ebenfalls. "Ganz einfach. Als ich dich angerufen habe, war ich nur noch ein paar Meter von hier entfernt. Also hättest du nicht mal ansatzweise gewinnen können.", offenbarte Martin mir. "Ernsthaft? Warum dann überhaupt das Ganze?", wollte ich wissen und war etwas sauer. "Damit du ganz schnell her kommst und siehe da, hier bist du." Ich schmollte und gab keine Antwort.
"Hey, bist du jetzt etwa beleidigt?" Martin unterdrückte ein Lachen. "Nö, hab gar keinen Grund. Außer, dass du mit unfairen Mitteln gekämpft hast." Nun schien er zu überlegen. "Du hast recht, es war nicht ganz fair. Aber trotzdem irgendwie lustig, zumindest für mich. Lass es mich wieder gut machen." Jetzt wurde ich neugierig. "Und wie willst du das anstellen?", fragte ich. "Ich würde dich meine nächsten Patienten behandeln lassen, gestern hast du ja gesagt dir fehlt deine Arbeit als Ärztin. Und heute liegt eigentlich nichts mehr weiter an, außer ein paar Impfungen und Kontrolluntersuchungen."
Nach anfänglicher Skepsis ob ich dem wirklich zustimmen sollte, war ich einverstanden. Er hatte ja immerhin recht, mir fehlte mein Job sehr. In München hatte ich nach meiner Weiterbildung auch in einer Praxis gearbeitet, eigentlich hatte ich meinen Facharzt noch nicht lange. Ungefähr ein Jahr, gleich danach stand für mich fest das ich im Krankenhaus nicht weiterhin bleiben wollte. Also habe ich dort gekündigt, mir eine Stelle in einer Gemeinschaftspraxis geschnappt, die ich ein halbes Jahr später wegen Stefan aber schon wieder aufgeben musste da meine Misshandlungen mehr und mehr sichtbar wurden. Diese Praxis war definitiv größer gewesen, drei Ärzte und mehrere Arzthelferinnen. Dort war ich hauptsächlich das Helferlein gewesen, aber es hatte mir Spaß gemacht und mich in meinen Zukunftsplänen nur noch mehr bestärkt.
Martin hatte nur eine Mitarbeiterin, Frau Schneider und so wie ich verstanden hatte sprang Roman manchmal für ihn ein. Ich wusste zwar wie ich mich den Patienten gegenüber verhalten musste, war aber trotzdem froh das Martin dabei war. Er hatte mir sogar einen weißen Kittel gegeben, denn laut ihm sollte es schon authentisch sein. Ich setzte bei zwei Patienten Spritzen, was Martin wegen Meiner Angst vor Nadeln etwas verwirrte. Diese galt aber nur für Spritzen, die mir selbst verabreicht wurden, ansonsten machte mir das gar nichts aus. Bei einem Mann wiederum wurde eine Wunde von Martin angeschaut und ich durfte sie neu verbinden. Schon jetzt merkte ich wieder, wie vielfältig die Arbeit in einer Praxis war und wie sehr es mir doch fehlte. Als der nächste Patient das Behandlungszimmer verlassen hatte, kam Roman herein und sah überhaupt nicht gesund aus und außerdem trug er einen Schal mitten im Sommer.
"Was'n mit dir los?", fragte Martin und Roman begann nach etwas zu suchen. "Erkältung.", antwortete er murmelnd. "Und dagegen brauch ich was.", fügte er noch hinzu. "Du setzt dich jetzt erstmal schön da auf die Liege und lässt dich untersuchen, so wie es in so einem Fall üblich ist.", sagte Martin bestimmt und ließ Roman erstmal keine Chance für einen Widerspruch.Er saß aber kaum auf der Liege, ging die Diskussion los. "Mir geht's soweit ja gut, ich nehme ein paar Medikamente und leg mich ins Bett. Ich erkenne eine Erkältung selbst und du hast Patienten, also brauchst du mich nicht untersuchen.", meinte Roman. "Der nächste Termin ist erst in einer viertel Stunde, solange haben wir Zeit. Mach dir bitte den Oberkörper frei.", wies Martin ihn an. "Wenn's sein muss.", brummelte der ältere Arzt und kam der Aufforderung nach. "Und übrigens werde ich dich nicht untersuchen, weil heute hab ich eine Kollegin da."
Das er mich jetzt auch noch Untersuchungen durchführen lässt, hätte ich nicht erwartet. "Ich soll ihn untersuchen?", fragte ich nach und Martin nickte. "Vielleicht benimmt er sich bei dir und hört auf zu nörgeln."
Roman machte es jedenfalls nichts aus und so machte ich mich gleich an die Arbeit. Ich warf einen Blick in den Rachen, hörte Herz und Lunge ab, fühlte die Lymphknoten und kontrollierte die Temperatur. Meine Diagnose war Erkältung und nachdem Martin das nochmal überprüft hatte, kam er zum gleichen Ergebnis. "Ich hab's doch gleich gesagt!", sagte Roman triumphierend. "Jaja, aber in deinem Alter gehen wir lieber auf Nummer sicher und deshalb nehmen wir dir noch Blut ab.", stellte Martin klar. "Was soll das heißen, in meinem Alter?", fragte Dr. Melchinger empört. "Nichts, nichts." Martin stand auf und holte alle Materialien. "Dann lass es wenigstens Gemma machen.", verlangte Roman und grinste. "Gerne, wenn sie möchte."
Und natürlich wollte ich, gar keine Frage. Also setzte ich mich auf den Hocker, legte den Staugurt an und suchte mir eine geeignete Einstichstelle an der Armbeuge. Als ich diese gefunden hatte, desinfizierte ich sie und zog mir während das Mittel einwirkte meine Handschuhe an. Die beiden anderen Ärzte schwiegen und beobachteten interessiert jeden meiner Schritte. Blut abnehmen konnte ich sozusagen im Schlaf, so oft hatte ich es schon gemacht. Ich entfernte den Rest des alkohaltigen Mittels mit einem Tupfer, da es beim Einstechen ansonsten unangenehm brennen konnte. Nun setzte ich die Nadel an. "Kannst du dich noch erinnern, was ich dir bei deiner Blutabnahme erklärt habe?", erkundigte sich Martin. "Das Geheimnis ist tief, aber nicht zu tief.", zitierte ich und ahmte sogar seinen Wortlaut nach. "Sehr gut aufgepasst, Frau Doktor Morrow.", lobte er mich und lachte. "Ich hab doch gesagt, ich werd's mir merken." Nun mischte sich Roman wieder ein. "Mensch Martin, jetzt lass das Mädel mal
machen. Sie weiß schon, was sie tut.", merkte er an und war ebenfalls belustigt. "Dankeschön.", sagte ich. "Ich bin auch vollkommen überzeugt von ihren Fähigkeiten. Und mal unter uns.." Martin beugte sich zu mir hinunter, damit er mir etwas ins Ohr flüstern konnte. "Auch wenn du noch eine Studentin wärst und es noch nicht so oft gemacht hättest, der wäre perfekt zum üben." Roman verstand es trotzdem. "Das habe ich gehört, Freudchen!", warnte Dr. Melchinger und hob tadelnd den Finger. "Jetzt hab ich aber Angst." Die beiden waren zum totlachen. "Jungs, Schluss jetzt. Ich muss mich konzentrieren, ansonsten steche ich daneben." Sie wurden still und ich beendete die Blutabnahme.
"So, jetzt bist du entlassen.", teilte ich Roman mit und klebte noch ein Pflaster auf die klitzekleine Wunde. "Das hast du toll gemacht, so eine angenehme Behandlung hatte ich noch nie." Roman zog sich wieder anständig an. "Freut mich sehr zu hören.", gab ich lächelnd zurück und befreite meine Hände aus den Handschuhen. "Wenn du mich fragst, bist du die geborene Bergdoktorin. Schon einmal über eine eigene Praxis nachgedacht?", wollte Roman wissen. "Oft genug, aber wahrscheinlich bleibt das nur ein Traum.", meinte ich daraufhin. "Das muss nicht sein, vielleicht kannst du ja diese Praxis übernehmen." Das sagte er nur um Martin zu ärgern, der sich entrüstet räusperte. "War nur Spaß, aber als Partnerin für dich würde sie auch gut hierher passen. Falls ich mal nicht mehr bin, muss ja jemand auf dich aufpassen."
Wir lachten erneut los, aber irgendwie hatte ich das Gefühl das Roman letzteres wirklich ernst gemeint hatte. Martin gab ihm noch ein paar Tabletten mit und er ging. Die nächste Patientin war noch nicht da, weshalb wir einen kurzen Plausch mit Frau Schneider hielten. "Ich glaube du kannst jetzt gehen, das ist die letzte Patientin für heute. Wenn sie denn überhaupt auftaucht."
Martin war schon leicht genervt, was ich auch verstehen konnte. Es passierte öfter das Patienten ihre Termine nicht wahrnehmen konnten, aber dann könnten sie wenigstens absagen. Das schienen hier aber genau wie in München nicht sehr viele Leute genau zu nehmen. Gerade als ich antworten wollte, kam eine junge Frau mit einem Maxi Cosi im Schlepptau zur Tür herein.
"Guten Tag, Dr. Gruber. Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Aber meine Mutter wollte eigentlich aufs Kind aufpassen und hat kurzfristig abgesagt, deshalb bin ich etwas spät dran.", erklärte die Patientin hastig. "Kein Problem, sie hatten ja einen wichtigen Grund." Martin ging kurz ein wenig in die Knie um auch das Baby kurz zu begrüßen, welches daraufhin lachte. Das es ein Mädchen war, erkannte man auf Anhieb. 'Wie niedlich!', dachte ich und sah der Kleinen beim glücklichen Zappeln zu, bis Martin sich wieder an uns wandte. "Wirklich süß.", meinte er lächelnd. "Aber wir lassen sie bei der Untersuchung lieber hier bei meiner Kollegin, sofern sie nichts dagegen haben."
Zuerst dachte ich, er würde von Frau Schneider reden. Als die Mutter des Kindes allerdings zugestimmt hatte, nahm Martin ihr die Trage ab und übergab sie an mich. Die Frau begab sich schon mal in den Behandlungsraum, während ich Martin nochmal kurz zurück hielt. "Ich soll auf das Baby aufpassen?", fragte ich flüsternd und er nickte. "Frau Schneider lassen wir das besser nicht machen, sieh es als kleine Übung an.", erwiderte er grinsend und folgte seiner Patientin.
Nun stand ich da mit einem Maxi Cosi, in dem ein fremdes Kind lag und war mehr als verunsichert. Frau Schneider war gerade eben kurz draußen gewesen und kam nun wieder herein, musste aber gleich ans Telefon gehen. Warum Martin ihr das Kind nicht anvertraut hatte, wusste ich nicht genau. Aber probieren konnte ich es ja mal und so lange dauerte die Untersuchung der Mutter bestimmt nicht.
Also nahm ich die Kleine mit nach draußen und setzte mich dort auf die Bank, soweit so gut. Nur dann begann das Baby plötzlich zu quengeln und schließlich weinte es auch schon los.
'Was hast du mir da nur eingehandelt, Martin?', dachte ich und versuchte das Mädchen zu beruhigen. Ich hatte klar schon oft genug mit Kindern zutun gehabt, war aber noch nie alleine mit einem fremden Säugling gewesen. Außerdem war ich die Jüngste in meiner Familie, demnach hatte ich es da auch nie mitbekommen was man in so einer Situation genau machen musste. Also musste ich mich auf meine Intuition verlassen und so irgendwie dafür sorgen, dass die Kleine aufhörte zu weinen.
"Alles klar, gar kein Problem. Komm mal her, du kleine Maus.", murmelte ich vor mich hin, nahm das Baby aus dem Maxi Cosi und wiegte es im Arm. Dabei stieg mir ein Geruch in die Nase, der nur eines bedeuten konnte. "Okay, vielleicht haben wir doch ein kleines Problemchen.", stellte ich fest und stand auf. Ich wollte ungern bei der Untersuchung stören, weshalb ich gleich zum Auto der Patientin ging und das stand glücklicherweise offen. Auf dem Rücksitz entdeckte ich eine Wickeltasche, die meine Rettung war. Einfach so Dinge aus Wägen anderer zu nehmen war sicherlich nicht die feine englische Art, aber es handelte sich hier gewissermaßen um einen Notfall.
Mit Baby und Tasche kehrte ich wieder zu den Sitzgelegenheiten zurück, breitete die Decke aus der Trage auf dem Tisch aus und legte den Säugling darauf ab. Selbst gewickelt hatte ich noch nie, aber es im Fernsehen oft genug gesehen und so schwer konnte es nicht sein. Ich durchsuchte die Tasche und fand Feuchttücher, sowie eine neue Windel.
"Dann wollen wir mal.", sagte ich eher zu mir, als zu dem Kind und begann sie zu wickeln. Das lief besser als gedacht und nachdem sie wieder angezogen war, kitzelte ich das Mädchen am Bauch und sie lachte mich an. Unweigerlich musste ich daran denken, dass ich in wenigen Monaten mein eigenes Kind wickeln würde und der Gedanke gefiel mir sehr. Gerade als ich das Baby wieder auf den Arm nahm, kamen Martin und die Patientin heraus.
"Was machen sie denn da?", fragte die Frau. "Ihre Tochter hat eine neue Windel gebraucht und ich habe die Tasche einfach aus dem Auto geholt, weil ich bei der Untersuchung ungern stören wollte.", erklärte ich schnell und sie nahm mir die Kleine ab. "Sie haben sie tatsächlich gewickelt?"
Da sie mit einen komischen Unterton sprach, wagte ich es nur leicht zu nicken. Es stellte sich aber heraus, dass die Frau keinesfalls sauer, sondern eher überrascht war.
"Normalerweise ist sie Fremden gegenüber eher misstrauisch und lässt sich nicht gerne anfassen. Selbst bei meiner Mutter wehrt die Kleine sich heftig, wenn sie von ihr gewickelt wird." Ich war erleichtert und fand meine Sprache wieder. "Bei mir hat sie dabei sogar gelacht.", erzählte ich nun. "Das ist wirklich erstaunlich. Sie haben doch sicher selbst Kinder, wenn sie schon so gut mit fremden Babys umgehen können.", meinte die Patientin. "Nein, noch nicht. Aber das wird sich bald ändern, genau genommen sogar schon in ein paar wenigen Monaten."
Irgendwie fühlte ich so etwas wie Stolz, als ich ihr das offenbarte. "Oh, sie sind schwanger? Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!" Ich bedankte mich und wenig später fuhr die junge Mutter weg, Martin und ich blieben noch draußen stehen. "Du hast das wirklich gut gemacht. Andere hätten Panik gekriegt und sofort die Mama des Kindes geholt." Martin grinste. "Ich dachte, ich versuche es erstmal selbst. Aber als die Frau dann so komisch nachgefragt hat, hab ich wirklich gedacht sie wird mich deshalb anschreien oder so.", antwortete ich. "Dafür gab's doch überhaupt keinen Grund, du hast alles richtig gemacht.", versicherte Martin mir nochmals. "Hoffentlich. Nicht, dass die Windel falsch herum sitzt.", dachte ich laut. "Warum sollte die falsch herum sitzen?", fragte Martin verwirrt. "Ich hab noch nie einem Baby die Windel gewechselt, das eben war das erste Mal." Wir blickten uns einen Moment an und fingen dann an zu lachen. "Wird schon stimmen und wenn nicht, ist es auch nicht weiter schlimm. Du hast es wenigstens probiert und bis dein Nachwuchs auf die Welt kommt, hast du noch jede Menge Zeit zum üben."
Ich nickte nachdenklich und sah auf meine Armbanduhr. "Ich sollte dann mal zurück zur Pension, langsam krieg ich Hunger.", meinte ich und gab Martin den Kittel zurück. "Es war schön. Danke, dass ich helfen durfte.", sagte ich. "Jederzeit wieder, wenn du möchtest." Wir verabschiedeten uns voneinander und ich fuhr bestens gelaunt zum Gasthof. Nicht ahnend, dass der Tag noch eine schlimme Wendung nehmen würde.
Während der Fahrt hörte ich eine meiner CDs und war glücklich, endlich wieder meinen eigenen fahrbaren Untersatz zu haben. Ich parkte auf den für Gäste vorgesehenen Parkplatz, stieg aus und schloss das Auto ab.
Auf halber Strecke fiel mir auf, dass ich meine Tasche vergessen hatte und kehrte nochmal um. Plötzlich entdeckte ich auf dem Boden etwas, das mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich bückte mich, um es aufzuheben und nahm es genau in Augenschein.
In der Hand hielt ich sogenannte Papers der Marke OCB, die man zum Drehen für Zigaretten verwendete. Diese Dinger konnte jeder verloren haben, aber es waren genau die Gleichen die Stefan für seine selbstgedrehten Zigaretten auch immer benutzte. Außerdem fühlte ich mich gerade schon wieder so beobachtet und das ich sie genau hier fand, wo gestern jemand herumgeschlichen war, konnte kein Zufall sein.
Stefan war hier in Tirol, er hatte mich gefunden und bei dieser Erkenntnis krampfte sich mein Magen zusammen. Panisch blickte ich mich um, entdeckte aber keine auffälligen Personen. Schnell eilte ich zurück zu meinem Wagen und nachdem mir der Schlüssel vor lauter Hektik einmal heruntergefallen war, schaffte ich es doch aufzuschließen und mich auf den Fahrersitz nieder zu lassen. Ich machte die Tür zu und begann nervös in meiner Tasche zu wühlen. Diesmal würde ich die Polizei rufen, noch bevor etwas passierte.
"Ganz ruhig.", ermahnte ich mich selbst, da meine Hände wie Espenlaub zitterten. Die Nummer war schnell ins Handy eingetippt, als auf einmal die hintere Autotür geöffnet wurde und sich jemand auf den Rücksitz schob.
Die Person knallte die Tür gleich wieder zu. Mir wurde das Handy vom Ohr weg aus der Hand gerissen, noch bevor jemand abgehoben hatte.
"Hallo, Gemma. Schön dich wiederzusehen.", säuselte eine mir nur allzu gut bekannte Stimme und mein Herz raste vor Angst.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt