Eine Weile lag ich noch auf dem Bett und grübelte vor mich hin. Aber dann beschloss ich, nicht mehr länger zu warten. Ich musste handeln, jetzt noch mehr Zeit verlieren durfte ich nicht. Ich sprang regelrecht aus dem Bett und rannte die Treppe hinunter. Sonja war mit Niklas in der Küche und fütterte ihn gerade mit dem Fläschchen. Ich bremste scharf ab und wäre beinahe in den Raum gestolpert, konnte mich aber gerade noch abfangen.
"Ich.. ich muss.." Ich war so schnell hinunter gestürmt, dass ich erstmal durchatmen musste. "Ich.. ich will.. zurück!", brachte ich schließlich hervor. Sonja sah mich an, als wäre ihr das bereits klar gewesen. "Zeig mir wie ich hier weg komme, ich bitte dich!", bat ich sie ohne sie zu Wort kommen zu lassen.
Sonja stellte das Fläschchen auf den Tisch, setzte den Kleinen in den Hochstuhl und kam zu mir. "Ich bin stolz auf dich, dass du dich entschieden hast zurück zu gehen.", sagte sie anerkennend und umarmte mich. "Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.", wandte ich besorgt ein. "Das wird sich zeigen und wenn ja, dann hast du es wenigstens versucht.", meinte sie aufmunternd. "Ich kann mir nur noch nicht vorstellen, wie das.. funktionieren soll.", gab ich nun zu. "Indem du einfach durch diese Tür gehst und schaust was passiert."
Sie zeigte auf die Haustür. Ich war verwirrt. "Erst durfte ich da nicht raus, jetzt war ich die letzten Tage mehrmals draußen und jetzt soll da irgendwas passieren?", fragte ich sie. "Es wird was passieren, vertrau mir.", sagte sie. "Ich weiß, dass viele andere vor dir genauso zurück gegangen sind, Leute aus anderen Familien. Du musst einfach nur ganz fest daran denken. Entweder du kehrst in deinen Körper zurück oder du landest wieder hier. Das können wir zum Beispiel auch nicht beeinflussen, je nachdem was das Schicksal für dich geplant hat, das wird geschehen." Wieder hörte es sich so unglaublich an. Aber was war hier schon normal? Nichts, absolut gar nichts.
"Würdest du mir weiterhin Zuflucht gewähren, wenn es nicht klappt?", fragte ich Sonja. "Natürlich, was für eine Frage! Es war schön jemanden zum Reden hier zu haben. Seitdem Johann weg ist, bin ich schließlich mit dem Kleinen allein. Aber Gem, deine Zeit kann noch nicht gekommen sein. Und deshalb glaube und hoffe ich, dass wir uns bis dahin nicht mehr sehen werden." Ich nickte und ging kurz zu Niklas, um mich verabschieden zu können. Dann kehrte ich zu Sonja zurück und nahm sie in den Arm.
"Danke!", flüsterte ich. "Für alles!" Sonja umarmte mich auch ganz fest zum vermeintlichen Abschied. Denn noch wussten wir ja nicht, ob ich nicht doch wieder hier landen würde. "Ich habe dir zu danken, für alles was du für meine Familie bis jetzt getan hast. Vor allem für die Lilli. Sei ihr eine gute Mama, genauso wie für Kira. Und Martin kann sich glücklich schätzen, dich zu haben."
Mir kamen die Tränen. Ihre Worte taten gut, sehr gut sogar. Auch wenn es sich absurd anhörte, mir hatte es hier irgendwie gefallen. Und sollte ich wieder hierher kommen, war es vielleicht auch nicht mehr so schrecklich wie zunächst nach meiner ersten Ankunft. Sonja war innerhalb dieser kurzen Zeit zu einer guten Freundin geworden. Ich würde sie wirklich vermissen, so komisch es sich auch anhören mochte.
"Jetzt geh besser.", meinte Sonja und wir ließen uns los. "Einfach durch die Tür?", fragte ich zur Sicherheit. "Einfach durch die Tür.", bestätigte Sonja lächelnd. Also stellte ich mich vor die Haustür und nahm den Griff in die Hand. Unsicher blickte ich nochmal zu Sonja, die mir aufmunternd zu nickte. "Bis irgendwann.", sagte sie lächelnd. "Vielleicht bis gleich.", antwortete ich und atmete tief durch. Ich konzentrierte mich darauf, an den Ort zu denken wo ich hin wollte. Zurück zu Martin, Kira und allen anderen.
Mir fiel auf, dass unten durch die Tür Licht herein kam. Unnatürlich helles Licht, was meine Neugier weckte. Als ich schließlich die Tür öffnete, wurde ich erstmal ziemlich geblendet. Dieses unnatürlich weiße Licht war einfach überall. Der Garten war verschwunden und statt ihm wartete vor mir das Nichts auf mich. Aber irgendetwas brachte mich dazu, hinaus zu treten. Ich war plötzlich eingehüllt von diesem Licht, das mir ein Gefühl von Schwerelosigkeit verlieh. "Sonja?", fragte ich. Doch sie war verschwunden.
Nach ein paar Schritten verlor ich plötzlich den Halt und ich glaubte zu fallen. Ich schrie, aber hören konnte mich keiner. Ich hatte Angst gleich irgendwo aufzuschlagen, jedoch verlor ich während dem Fall plötzlich das Bewusstsein.
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Martin stand da, ohne sich zu rühren. Als nächstes musste er die Maschine abstellen, die Gemma beatmete und danach den Tubus entfernen. Roman bemerkte, dass Martin es nicht konnte. Doch bevor er die Maschine berühren konnte, hielt Martin ihn davon ab.
"Ich mach das.", meinte er leise und stellte daraufhin auch das Beatmungsgerät ab. Es wurde komplett leise im Zimmer und Martin kämpfte mit den Tränen. Gemma hatte davon nichts mitbekommen. Für Martin war es jetzt amtlich, es war vorbei, endgültig.
Jetzt musste nur noch der Tubus entfernt werden und dann hieß es Abwarten. Warten, bis ihr Körper alle Funktionen aufgab, erst dann würden sie den Tod bestätigen können. Aber für Martin war es zu Ende. Er konnte nicht fassen, was er getan hatte. Auch wenn es in ihrem Sinne gewesen war, hatte er trotzdem das Gefühl Gemma umgebracht zu haben. "Was hab ich nur getan?!", flüsterte er fassungslos. "Was hab ich getan, was hab ich nur getan?!"
Tränen lösten sich nun aus seinen Augen. Roman legte seinem jüngeren Kollegen eine Hand auf die Schulter. "Das Richtige, mein Junge. Das einzig Richtige.", sagte Roman, obwohl er selbst mit seinen Emotionen kämpfte. Martin näherte sich seiner Freundin und küsste ihre Stirn.
"Es tut mir leid!", flüsterte er kaum hörbar. "Es tut mir alles so unendlich leid!" Obwohl Martin selbst nichts für all das konnte, glaubte er genau das. Er hatte geglaubt sie retten zu können, dies war ihm jedoch nicht gelungen. Behutsam strich er ihr die braunen Haare hinters Ohr.
"Soll ich den Tubus entfernen oder schaffst du das?", erkundigte Roman sich wie davor ebenfalls sehr unsicher. "Ich.. ich schaff das schon. Gib mir nur einen Moment.", bat Martin seinen Freund. Er hatte sich nie wirklich gefragt, was die Menschen wohl spürten wenn man sie von den lebenserhaltenden Maßnahmen trennte. Die Vorstellung war gespenstisch und er hatte deshalb immer den Theorien geglaubt, dass diejenigen gar nichts spürten. Doch nun hatte er Angst, wie es Gemma wohl erging. Äußerlich war sie ganz ruhig, was aber nicht bedeutete das es in ihr genauso aussah.
Sich das vorzustellen war für Martin unerträglich, weshalb er beschloss die Flucht zu ergreifen und an Roman vorbei stürmte.