"Nein.. sag, dass das nicht wahr ist!" Martin blickte mich mit Tränen in den Augen an, was für mich beinahe unerträglich war. Gerade hatte ich ihm vom Tod seines Sohnes berichtet. "Ich wünschte das könnte ich, aber.. wir haben intubiert und reanimiert.." Mir versagte die Stimme. "Und Andrea?", fragte er nun. "Sie nähen gerade noch die Wunde und bringen sie dann auf die Intensiv. Wenn sie die Nacht übersteht, wird sie wieder vollkommen gesund."
Martin nickte und dann kam Alexander heraus. "Wir sind fertig.", sagte er bedrückt. "Ich muss weiter.. Es tut mir leid, Martin." Er ging davon. "Ich nehme an, du möchtest zu Andrea." Martin schüttelte jedoch den Kopf. "Erst.. erst will ich ihn sehen." Darauf wusste ich erstmal nichts zu sagen, denn ich hielt das für keine gute Idee.
"Willst du dir das wirklich antun?", fragte ich unsicher. "Er ist mein Sohn, ich will ihn wenigstens einmal gesehen haben und.. mich verabschieden. Gem, bitte!" Ich konnte es irgendwie nachvollziehen, weshalb ich mich überzeugen ließ. "In Ordnung.", sagte ich schließlich.
Martin musste sich ebenfalls OP-Kleidung anziehen da wir in den Saal gehen würden. "Warte hier." Da die Schwestern gerade noch etwas aufräumten, wollte ich sie erstmal weg schicken. "Entschuldigung?" Die zwei Frauen blickten auf. "Der Vater des Kindes würde sich gern noch verabschieden.. würden sie bitte kurz den OP verlassen?"
Das war für die Schwestern selbstverständlich und da eine von ihnen das Baby bereits im Arm gehabt hatte, gab sie es an mich weiter. Ich entfernte das Tuch, in dem es eingewickelt war und gab Martin der draußen vor der Schreibe stand ein Handzeichen. Er kam herein und ich legte ihm seinen Sohn in die Arme, dann entfernte ich mich ein wenig.
Martin strich dem Kleinen über den Kopf und ich sah, dass er weinte. Ich musste mich selbst zusammenreißen, es war einfach schrecklich. "Wir hätten ihm den Namen Niklas gegeben.", sagte Martin heißer. "Ein schöner Name.", antwortete ich und schluckte hart. Ich ließ Martin so viel Zeit wie er brauchte und so verging fast eine Stunde.
Als mein Pieper ging, erschraken wir Beide. "Wenn du noch bleiben möchtest, dann kannst du das." Aber das wollte er nicht, weshalb ich den Schwestern Bescheid gab und mit ihm den OP verließ. Martin begab sich gleich auf die Intensivstation, während ich woanders gebraucht wurde.
Schwester Angelika hatte mich angepiept, da bei zwei Patienten noch Blut abgenommen werden musste. Meine Hände zitterten stark, was ich kaum unter Kontrolle bringen konnte, aber irgendwie schaffte ich es doch ohne daneben zu stechen.
"Hier sind die Blutproben. Kann ich hier sonst noch etwas für dich tun?" Ich stellte die Proben bei der Krankenschwester auf dem Schreibtisch ab, wo sie gerade Papierkram erledigte. "Nein, gerade fällt mir nichts ein.", antwortete Angelika und blickte auf. "Ist alles ok? Du siehst total fertig aus.", stellte sie daraufhin fest. "Mir geht's gut, war nur eine nervenaufreibende OP." Ich wollte da jetzt nicht näher drauf eingehen, was sie merkte. "Verstehe. Aber wenn du reden möchtest, dann kannst du jederzeit zu mir kommen."
Dafür bedankte ich mich und verließ das Schwesternzimmer wieder. Da ich jetzt nirgendwo sonst gebraucht wurde, ging ich zum Aufzug und erreichte kurz darauf die Intensivstation. Ich fragte eine Pflegerin wo ich Andrea finden würde und sie nannte mir die Zimmernummer. Gerade, als ich klopfen wollte, kam Alexander heraus.
"Da würde ich jetzt nicht rein gehen, sie wacht gerade auf und Martin wird es ihr dann erzählen.", sagte er. "Das ist so grausam!", meinte ich und legte eine Hand auf meinen Bauch, um sicher zu sein das mein Baby noch bei mir war. "Das ist es, aber wir haben alles versucht.", entgegnete Alexander. "Ich weiß, aber.." Ich wusste nicht wie ich es beschreiben sollte, weshalb ich einfach aufhörte zu reden.
"Fahr nach Hause, für dich war das heute definitiv Stress genug." Das überraschte mich und ich fragte nach, ob er das tatsächlich ernst meinte. Und nachdem Alexander mir das versichert hatte, fuhr ich kurz darauf wirklich Heim.
Kaum angekommen, standen eine halbe Stunde später die Lieferanten vor der Tür, die die Möbel für das Kinderzimmer brachten. Um mich etwas abzulenken begann ich gleich mit dem Aufbau, aber mich packte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Letztendlich saß ich weinend auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und brauchte lange bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Völlig ausgelaugt legte ich mich dann ins Bett, mit der Hoffnung etwas Schlaf zu finden. Aber egal wie müde ich auch war, es wollte nicht klappen. Gegen vier Uhr wurde es mir dann zu blöd, weshalb ich aufstand und mich anzog. Ich hatte einen gewissen Drang danach in die Klinik zu fahren, was ich schließlich auch in die Tat umsetzte.
Da es mitten in der Nacht war, ging es dort ruhiger zu und ich erinnerte mich an meine damaligen Nachtschichten. Diese hatte ich immer besonders gemocht, obwohl man beinahe jede Stunde aus dem Bett geklingelt wurde. Nachdem ich meine Arbeitskleidung angezogen hatte, begab ich mich gleich zur Intensivstation. Schon durchs Fenster konnte ich sehen, dass Martin schlafend auf einem Stuhl neben dem Bett von Andrea saß.
Ich betrat ganz leise das Zimmer und stupste ihn vorsichtig an. "Martin?" Er schreckte auf. "Was.. was ist.. Gemma?", fragte er verwirrt und rieb sich die Augen. "Ja, ich bin's." Bei der Gelegenheit überprüfte ich gleich mal die Werte auf den Monitoren, soweit war alles so wie es sein musste. "Wie viel Uhr haben wir denn?", wollte Martin wissen. "Kurz vor fünf.", erwiderte ich. "Und warum bist du dann hier? Soweit ich weiß, hast du keine Nachtschichten." Er gähnte ausgiebig. "Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie du, ich hab mir Sorgen um Andrea gemacht." Diese schlief tief und fest, anscheinend hatte man sie sediert.
"Kaffee?", fragte ich nun und Martin nickte. "Gerne." Wir verließen leise das Krankenzimmer und holten uns bei der Nachtschwester jeder eine Tasse Kaffee. In meinen mischte ich extra viel Milch und Zucker, aber ich brauchte jetzt eine gewisse Menge Koffein. Wir setzten uns dann auf die Stühle im Gang.
"War sie wach?", fragte ich nun und Martin nickte. "Kurzzeitig, ja. Sie hat sofort gemerkt, dass.. etwas fehlt.", berichtete er nachdenklich. "Ich musste es ihr dann sagen und daraufhin ist sie komplett hysterisch geworden, bis man sie letztendlich sedieren musste." So etwas hatte ich mir schon gedacht.
"War das beste, was man hatte machen können. In ihrem Zustand würde ihr die Aufregung nur schaden.", meinte ich mitfühlend. "Allerdings. Aber ich frage mich, wie es jetzt weitergehen soll.", antwortete Martin. "Das wichtigste ist jetzt, dass Andrea wieder komplett gesund wird und ihr über diesen.. Verlust hinweg kommt."
Das hörte sich wirklich hart an, so musste es aber sein. Sie durften jetzt auf keinen Fall in ihrer Trauer versinken, sondern es irgendwie schaffen wieder nach vorne schauen. "Ich weiß und wir werden das schon hin bekommen. Wenigstens kümmert sich die Klinik um die Beerdigung, so.. können wir in Ruhe trauern und uns dann gemeinsam verabschieden." An die noch bevorstehende Beisetzung des Kleinen hatte ich bis jetzt nicht denken wollen, aber so hatten sie tatsächlich die Möglichkeit nochmals von ihm Abschied zu nehmen.
"Ich muss unbedingt in die Praxis. Die ganze Arbeit von gestern ist liegen geblieben, ich bin froh das Roman die restlichen Patienten übernommen hat.", erzählte Martin mir nun. "Er ist dir eine große Hilfe, das hab ich schon gemerkt. Aber es ist noch nicht mal sechs Uhr und du hast kaum geschlafen, vielleicht solltest du zuvor nochmal heim fahren und dich hinlegen.", schlug ich vor. "Schlaf wird überbewertet. Am liebsten würde ich durchgängig bei Andrea bleiben, aber das wird wohl nicht funktionieren."
Da kam mir eine Idee. "Wenn du willst, schaue ich später mal bei Roman in der Praxis vorbei und helfe ihm ein bisschen." Martin sah mich überrascht an. "Das würdest du wirklich machen?", fragte er. "Wenn ich dir so eine Sorge abnehmen kann, natürlich. Aber ich müsste noch mit Alexander reden und meine Bedingung wäre, dass du dich dann gleich für ein paar Stunden zu Hause hinlegst."
Der Arzt nahm mich einfach in den Arm. "Damit würdest du mir sehr helfen!", sagte er und somit war das zwischen uns schon ausgemacht. Martin fuhr dann gleich Heim und eine gute Stunde später kam Alexander, dem ich gleich von meinem Plan berichtete. Für ihn klang das ebenfalls sehr gut und nachdem ich noch bei einer OP assistiert hatte, fuhr ich zu Martins Praxis. Es war kurz nach zehn, als ich dort ankam und nur Frau Schneider saß an ihrem Schreibtisch.
"Dr. Gruber ist nicht da.", teilte sie mir gleich mit, ohne von ihrer Zeitschrift aufzublicken. Dann kam eine Patientin heraus und verabschiedete sich, Roman kam ebenfalls aus dem Behandlungszimmer. "Was machst du denn hier?", fragte er überrascht. "Können wir kurz reden?" Roman nickte und wir gingen in den anderen Raum, um ungestört zu sein.
"Ich weiß nicht, wieviel dir Martin schon erzählt hat.", begann ich zögerlich. "Kommt drauf an, was du meinst." Anscheinend wusste Roman nicht wovon ich sprach. "Jedenfalls hab ich ihn seit gestern Mittag nicht mehr gesehen und er hat nur ganz kurz angerufen, dass ich seine Patienten übernehmen soll. Aber irgendwie war er da ganz komisch. Hast du eine Ahnung, wo er ist?", wollte der ältere Arzt wissen.
"Er ist bei Andrea im Krankenhaus, wo er hingehört.", erwiderte ich. "Andrea ist im Krankenhaus, warum? Ist was mit dem Kind?" Darauf konnte ich erstmal keine Antwort geben. "Gemma, was ist los?" Ich merkte wie mir wieder die Tränen kamen. "Gemma?" Roman wurde merklich unruhig. "Andrea hatte einen Unfall, sie wurde gestern in der Stadt angefahren.", berichtete ich nun und Roman blickte mich entsetzt an. "Was? Und.. wie geht's ihr jetzt?", fragte er. "Inzwischen etwas besser, sie liegt aber auf der Intensivstation. Wir konnten ihre Milz und ihre Leber in einer OP weitestgehend reparieren."
Dann wollte Roman natürlich wissen, wie es dem Kind ging. "Wir mussten es holen, die Plazenta hatte sich komplett gelöst und.." Ich brach kurz ab. "Und?" Bevor ich weiter sprach, atmete ich tief durch. "Ihr Sohn hat es nicht geschafft.", sagte ich letztendlich. "Oh Gott!", hörte ich Roman sagen. "Und Andrea weiß das schon?" Ich nickte. "Ja, allerdings musste man sie danach ruhig stellen.", antwortete ich. "Deshalb ist es besser, wenn Martin bei ihr ist. Und ich helfe dir hier, so haben wir es jedenfalls ausgemacht."
Roman nickte nachdenklich. "Das ist eine gute Idee.", meinte er daraufhin. "Aber fühlst du dich auch im Stande dazu?" Darüber musste ich wirklich kurz nachdenken. "Sicher, sonst wäre ich nicht hier.", antwortete ich schließlich und wurde dann erstmal von Roman in den Arm genommen. "Dann bin ich einverstanden. Vielleicht könnten wir zusammen auch sie Hausbesuche erledigen, wenn es dir nicht zu viel wird."