Der Unfall war nun schon fünf Wochen her und seitdem hatte sich viel getan. Nach fast einer Woche im Krankenhaus mit intensiver Überwachung, hatte Martin mich gleich darauf zu einer Kurklinik gefahren. Diese befand sich rund zwei Stunden von Ellmau entfernt, weshalb Martin nur alle paar Tage vorbei kam und die Kinder nicht jedes Mal mitnehmen konnte.
Vier Wochen war ich demnach jetzt schon hier und die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Selbst die Tatsache, dass die Tage mit Anwendungen vollgepackt waren, machte es nicht besser. Nächste Woche sollte es endlich nach Hause gehen, aber bis dahin musste ich es hier noch aushalten.
Die Leute hier waren wenigstens sehr lieb, jedenfalls die meisten und ich hatte einige neue Freunde gefunden. Sarah kam mich auch so oft sie konnte besuchen, allerdings hatte sie wirklich viel im Krankenhaus zu tun. Wenigstens konnte ich inzwischen wieder einigermaßen ohne Hilfsmittel laufen, für längere Strecken mussten dann aber trotzdem noch Krücken herhalten. Aber mir ging es von Tag zu Tag besser, mein Körper erholte sich langsam von den Strapazen und ich wurde wieder kräftiger. Vielleicht war die Kur tatsächlich eine gute Idee von Martin gewesen.
Der Mann, der für meinen Unfall verantwortlich war, saß seit ein paar Tagen im Gefängnis und ich würde Schmerzensgeld bekommen. Bei der Verhandlung war ich gewesen, dorthin hatte Martin mich mitgenommen. Für die Frau, mit der ich mich komischerweise sehr gut verstand, und für deren Kinder tat es mir leid. Aber dieser Mensch durfte einfach nicht mehr frei herum laufen und das es im Eilverfahren geregelt worden war, war eine große Erleichterung gewesen. So konnte ich mich nun voll und ganz auf meine Genesung konzentrieren.
Ich saß gerade mit ein paar anderen Patienten draußen. Die Klinik hatte wirklich ihre Vorzüge, wie einen großen Garten, wo ich fast jeden Nachmittag mit einigen anderen saß und redete. Häufig spielten wir auch Spiele, so wie heute. Wir spielten ein Kartenspiel und inzwischen hatte ich aufgehört die Runden zu zählen, da es einfach zu viele waren. Aber wir hatten alle sehr viel Spaß dabei, es lenkte von den Schmerzen ab, die viele von uns noch immer hatten.
Ich war gerade dabei zu gewinnen, als sich plötzlich etwas über meine Augen legte. Ich erschrak erstmal, aber alle anderen fingen an zu lachen. Sie mussten wohl alle gesehen haben, dass sich jemand genähert hatte. Denn das auf meinem Gesicht waren zweifellos Hände, wie ich merkte, als ich sie mit meinen ertastete.
"Schummelst du schon wieder?", fragte mich eine Stimme, die ich nur zu gut kannte. "Was machst du denn hier?", fragte ich und er nahm die Hände weg. Ich drehte mich zur Seite, wo tatsächlich Martin stand. "Ich hab gedacht, ich komme überraschend vorbei. Roman hat übernommen und ich hab den ganzen restlichen Tag Zeit für dich. Wir müssen sowieso miteinander reden." Das gefiel mir irgendwie gar nicht. "Worüber?", fragte ich. "Das klären wir später, jetzt spiel du erstmal fertig.", antwortete Martin und ich grinste. "Warte kurz.", sagte ich und legte dann all meine übrigen Karten dorthin wo sie hin mussten. "Fertig.", sagte ich und alle lachten.
Ich verabschiedete mich von den anderen und Martin half mir beim Aufstehen, indem er die Krücken bereit hielt. "Geht's?", wollte Martin nach ein paar Metern wissen. "Inzwischen auch eigentlich schon teilweise ohne, aber zur Sicherheit benutze ich die Dinger noch.", antwortete ich. "Sehr vernünftig.", sagte Martin. "Gell. Aber hast du nicht was vergessen?", fragte ich ihn und blieb stehen. Es fiel ihm auf Anhieb ein. "Ohje, entschuldige!", meinte Martin und gab mir einen Kuss. Denn begrüßt hatte er mich nämlich noch nicht richtig, worauf ich nun bestanden hatte.
"Also, was gibt's so wichtiges?", wollte ich nun wissen. "Gehen wir ein bisschen spazieren.", antwortete Martin nur und ging voraus zum Ausgang der Klinik. Ich folgte ihm.
Die Klinik lag abgelegen, um sie befanden sich zahlreiche Wege, die sich perfekt zum Wandern eigneten. Martin lief neben mir her und beobachtete mich beim Laufen mit den Gehhilfen. "Sieht wirklich schon sehr gut aus.", meinte er. Nach ungefähr zehn Minuten kamen wir zu einer Bank, auf der wir uns nieder ließen. "Es ist zwar schön, dass es langsam bergauf geht. Aber es ist verdammt anstrengend.", gab ich zu, da ich nach der kurzen Strecke schon ziemlich erschöpft war. "Wir müssen es auch nicht übertreiben.", meinte Martin. "Das waren ein paar Meter.", antwortete ich. "Das war eigentlich gar nichts und ich kann jetzt schon nicht mehr. Ich muss fit werden, wenn ich weiter im Krankenhaus arbeiten will. Da laufe ich eigentlich ununterbrochen."
Gerade war ich einfach nur wieder genervt davon, nicht so zu können wie ich wollte. "Gem, das hatten wir jetzt schon unzählige Male. Du fängst erst wieder an zu arbeiten, wenn es körperlich funktioniert.", stellte Martin klar. "Ich weiß.", antwortete ich seufzend. "Und warum mache ich mir eigentlich so einen Stress? Böning hat mir versichert, dass mir meine Stelle auch in ein paar Monaten zur Verfügung stehen wird. Und was diese Weiterbildung betrifft.. ich glaube sowieso nicht, dass ich gut genug war um in das Programm aufgenommen zu werden. Die hätten sich ansonsten bestimmt schon gemeldet."
Darüber dachte ich in den letzten Tagen auch oft nach. "Ich hätte dort nicht hinfahren sollen. Ich hätte es gleich lassen sollen, denn dann wäre ich nie unter dieser Brücke durch gefahren und der Unfall nie passiert. Das war ne blöde Idee dort mitzumachen."
Ich sah Martins Blick und bereute das was ich gerade gesagt hatte. "Und jetzt fang nicht wieder damit an, dass du mich überredet hättest. Das hast du nicht. Ich hätte auch einfach ablehnen können, habe ich aber nicht getan. Ich habe alleine entschieden." Martin nickte nachdenklich. "Schon gut, darüber müssen wir jetzt nicht reden.", antwortete Martin. "Nein, weil du ja einen anderen Grund hast warum du hier bist und mit mir ja was besprechen wolltest.", erinnerte ich ihn.
"Um ehrlich zu sein müssen wir dann doch darüber reden. Jedenfalls über die Weiterbildung an sich.", offenbarte Martin mir nun. "Wie meinst du das jetzt?", fragte ich und Martin griff in seine Jackentasche. Er holte ein Kuvert hervor, das einmal in der Mitte gefaltet worden war. "Der lag heute Morgen bei dir im Briefkasten.", erklärte Martin mir und überreichte mir den Umschlag.
Ich las die Daten des Absenders. Der Brief war von der Behörde, die für diese spezielle Art der Weiterbildung zuständig war für die ich mich beworben und auch die Prüfungen in Innsbruck geschrieben hatte.
