Währenddessen herrschte im Schockraum reges Treiben. Man versuchte die Verletzungen nach Schweregrad einzustufen, aber das erwies sich als fast unmöglich.
Plötzlich stürmte ein weiterer Arzt in den Raum, der bis eben noch im OP gestanden hatte. Aber als er gehört hatte wer eingeliefert worden war, hatte er sofort einen Kollegen rufen lassen der für ihn übernehmen sollte. "Es stimmt also.", musste er mit Entsetzen feststellen. "Was wissen wir?", fragte er gleich darauf. "Polytrauma nach schwerem Autounfall, hoher Blutverlust durch Läsion der unteren Extremität rechts, Verdacht auf Leber oder Milzruptur, außerdem könnte das Rückenmark betroffen sein!" Der Arzt zählte noch viele weitere Fakten auf, die seinen sonst so vorlauten Kollegen sprachlos machten. "Dr. Kahnweiler?"
Beim klang seines Namens fand er zurück in die Realität. "Sofort in den OP mit ihr und gebt Dr. Richter Bescheid!", befahl er. "Die operiert.", meinte jemand. "Wenn sie erfährt was passiert ist wird sie das einem Kollegen überlassen!", meinte Kahnweiler und machte allen Anwesenden Beine.
Zur gleichen Zeit stand Dr. Sarah Richter, Gemmas beste Freundin, in OP 3 der Klinik und nahm einen Eingriff bei einem älteren Herren vor. Außer ihr war noch ein zweiter Chirurg anwesend und typischerweise ein paar OP-Schwestern und ein Anästhesist. Die Ärztin war konzentriert bei der Sache und schon den ganzen Tag wartete sie darauf, dass ihre Freundin aus Innsbruck zurück kehrte wo sie an einem Test für eine neue Weiterbildungsmöglichkeit teilgenommen hatte. Heute Abend würde sie gleich bei ihr vorbei schauen, um natürlich zu fragen wie es gelaufen war und außerdem hatte auch sie selbst wichtige Neuigkeiten. Die musste als erstes Gemma erfahren, bevor sie es alle anderen wissen durften. Sarah war überglücklich und wollte ihrer Freundin am liebsten sofort von den neuen Gegebenheiten berichten. Aber zuerst musste sie diese Operation beenden und das in der Zwischenzeit etwas schreckliches passiert war ahnte sie noch nicht.
Sie mussten die Wunde nur noch nähen, dann konnte sie endlich durch schnaufen und für heute die Klinik verlassen. Einmal mehr nach etlichen Überstunden, aber selbst das trübte ihre Laune nicht. Selbst als sie das Piepen eines Pagers vernahm, blickte sie nicht auf. Darum kümmerte sich eine OP-Schwester, die feststellte das jemand versuchte Sarah zu erreichen.
Die kurze Info auf dem Pieper reichte und die Krankenschwester wusste, dass die Ärztin sofort den OP verlassen würde wenn sie davon erfuhr.
"Frau Doktor, das ist ihrer.", teilte sie Sarah vorsichtig mit. "Ich kann jetzt nicht.", sagte diese bestimmt. "Doch, Frau Doktor. Ich glaube diesen Ruf wollen sie nicht ignorieren." Die Schwester ging zu Sarah und zeigte den Pager, die Ärztin las und legte sofort die Instrumente beiseite. "Machen sie ihn bitte zu, ich.. ich muss weg.", stammelte sie und ihr Kollege nickte verdattert.
Schnell eilte Sarah zur Tür und zog sich derweil die OP-Kleidung aus, die sie in die dafür vorgesehenen Eimer warf. Sie rannte hinaus auf den Flur und anstatt wieder ewig auf einen Aufzug zu warten, wollte sie die Treppen benutzen um schleunigst in die Notaufnahme zu gelangen. Aber da öffnete sich bereits ein Aufzug mit einigen ihrer Kollegen, unter ihnen Dr. Kahnweiler.
Sie schoben eine Trage heraus und Sarah unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. "Gem!", schluchzte sie stattdessen. Sie erkannte ihre Freundin trotz ihrer schweren Verletzungen. Intubiert lag sie da, blutverschmiert und kaum ein Teil ihres Körpers schien verschont geblieben zu sein. "Was ist passiert?", fragte sie und hatte sich wieder einigermaßen gefasst. "Autounfall.", entgegnete Alexander und zusammen liefen sie neben Trage her. "Und was hast du jetzt vor?", wollte Sarah wissen. "Wir operieren. Professor Böning kommt auch gleich."
Sie hatten den Chefarzt natürlich auch sofort alarmiert und er wollte auf jeden Fall bei der Operation dabei sein, besser gesagt diese selbst durchführen. "Und wo wollt ihr anfangen?" Die sonst so talentierte Ärztin hatte das Gefühl plötzlich alles über Medizin vergessen zu haben. "Das wird sich ergeben.", erwiderte Dr. Kahnweiler. "Aber du wirst nicht dabei sein.", fügte er hinzu. Inzwischen hatte man Gemma in den Saal geschoben. "Was?! Aber.. Alexander, wir reden hier von meiner besten Freundin!", protestierte Sarah. "Eben. Ich habe dich nur her geholt, damit du es nicht woanders aufschnappen kannst. Ich wollte, dass du es erfährst bevor jetzt das Gerede in der Klinik los geht. Und ich möchte, dass du Martin anrufst.", bat er seine junge Kollegin.
"Ich?! Alexander, das kann ich nicht!" Sarah wusste das es Martin genauso schlimm treffen würde. "Du kannst, du wirst und du musst. Ich muss nämlich in den OP und außer dir gibt es niemanden der das übernehmen kann, immerhin kennt ihr euch inzwischen auch. Und du solltest es sofort tun, weil es sieht so aus als ob.."
Alexander machte eine Pause. "Als ob Gemma diese OP nicht überleben wird, ihre Verletzungen sind gravierend."
Mit diesen Worten ließ er seine Kollegin einfach stehen, da er damit nun selbst fertig werden musste bevor er hinter den OP-Tisch trat. Da brauchte er seine komplette Konzentration und allein das er gleich schon wieder eine Lebensgefährtin seines Freundes operieren musste war für ihn schwer genug. Um Gemma stand es noch schlechter als um Andrea damals. Trotzdem würden er und seine Kollegen alles versuchen, egal wie ausweglos es auch gerade schien.
Die Ärzte machten sich allesamt fertig für die OP und trafen sich im Saal ein. Sofort wurde mit der schwierigen Operation begonnen, deren Ausgang noch ungewiss war. Derweil stand Sarah noch immer wie angewurzelt im Gang und konnte sich einfach nicht vom Fleck weg bewegen. Die Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, aber noch weinte sie nicht. Und ihr wurde bewusst, dass Alexander leider recht hatte. Wenn es mit Gemma zu Ende ging, würde Martin sie ein letztes Mal sehen wollen. Deshalb durfte sie den Anruf nicht weiter hinaus zögern.
Langsam ging sie in die Umkleide, wo sie vorhin ihre Sachen abgelegt hatte und holte aus dem Schrank dort ihr Handy. Sie setzte sich auf die Bank und scrollte durch ihre Kontakte, bis sie Martins Handy Nummer gefunden hatte. Diese Nummer hatte sie heute schon einmal angerufen, um nach zu fragen ob Gemma zu Hause angekommen war. Denn als sie es bei ihrer Freundin versucht hatte war diese nicht ran gegangen. Und da hätten bei ihr schon alle Alarmglocken läuten müssen, aber sie hatte geglaubt das sie nicht ran ging weil sie noch am Autofahren war.
Sarah starrte auf das Display, hielt den Daumen über den grünen Hörer, aber drückte dort nicht drauf. Sie begann zu zittern und überlegte was sie Martin nur sagen sollte.
Martin selbst saß gerade bei seiner Mutter in der Küche und ließ sich ein Stück ihres Apfelkuchens schmecken. Gleichzeitig hatte er Kira auf dem Schoß und für Lisbeth war das ein sehr rührender Anblick. Genüsslich verspeiste er das letzte Stückchen und legte die Gabel auf den leeren Teller. Für Gemmas Rückkehr hatte sich der Arzt extra einen Tag frei genommen.
"Es war wieder einmal köstlich, Mama!", schwärmte er. "Das freut mich. Und auch, dass du heute so gut gelaunt bist.", meinte Lisbeth. "Dazu hab ich ja auch allen Grund. Und du auch, stimmt's? Du freust dich auch schon auf die Mama." Als ob Kira ihn verstehen konnte lachte sie los. "Ihr zwei habt das erstaunlich gut gemeistert, aber klar freut ihr euch auf die Mama."
Kaum hatte Lisbeth ihren Satz beendet, klingelte plötzlich Martins Handy. "Sarah schon wieder. Wahrscheinlich will sie wieder wissen ob Gem schon Daheim ist." Aber damit sollte er völlig daneben liegen.
Jedoch wusste er das vorm Annehmen des Anrufs noch nicht. "Servus, Sarah. Und Nein, Gem ist noch nicht wieder zu Hause.", teilte er ihr gleich mit. Sarah, die noch immer mit den Tränen kämpfte schwieg am anderen Ende. "Sarah, bist du dran?", fragte Martin. "Ja.", antwortete sie und schluckte schwer. "Stimmt was nicht?" Martin merkte sofort das sie sich anders verhielt.
"Ich.. ich weiß das Gem noch nicht zu Hause ist.", stammelte Sarah. "Und wieso rufst du dann an?", wollte Martin wissen. "Weil Gem.." Sarah brach ab, um nochmal durchatmen zu können. "Weil sie hier ist.", sagte sie schließlich. "Wo hier? In der Klinik?", fragte Martin verwirrt. "Ja.", antwortete die Ärztin wieder nur. "Was? Aber sie hätte mir doch Bescheid sagen können, dass sie erst in der Klinik vorbei schaut. Mein letzter Stand war das.."
Sarah wollte ihm nun einfach die Wahrheit sagen, bevor er weiter darum rätselte und sie regelrecht damit quälte. Denn sie wünschte sich, dass Gemma nur vorbei gekommen wäre, um etwas in der Klinik zu erledigen. Aber stattdessen war sie mit dem Hubschrauber als schwer Verletzte eingeflogen worden und kämpfte im OP gerade ums Überleben.
"Martin, sie ist nicht freiwillig hier und.. du solltest schnell herkommen bevor sie vielleicht.." Nun brach die Ärztin in Tränen aus. "Bevor.. Bevor sie was, Sarah? Was ist mit Gemma?", fragte Martin mit zitternder Stimme. Auch Lisbeth wurde hellhörig.
"Sie hatte einen Unfall!", schluchzte Sarah. "Und.. und man.. Man weiß nicht ob sie die Operation die gerade stattfindet überleben wird. Alexander hat gesagt ich soll dich anrufen und du sollst sofort herkommen. Martin, es kann sein das Gemma stirbt!"
Diese Worte konnte Martin kaum mehr verstehen, denn Sarah war vollkommen aufgelöst. Er verstand nur Gemma, Unfall und sterben. "Ich.. Ich komme sofort.", sagte Martin und legte dann einfach auf. Er wollte und konnte das gerade noch nicht wirklich glauben. "Is was passiert?", fragte seine Mutter ihn. Aber statt eine konkrete Antwort zu geben gab er ihr Kira.
"Ich muss in die Klinik.. Gem.. Pass bitte auf die Kleine auf, ich muss los!", stotterte er und eilte sofort hinaus zu seinem Auto.