Demnach stand ich nun alleine im Zimmer und hielt nach wie vor diese mysteriöse Schachtel in den Händen. Sie war nicht schwer und als ich sie ein wenig schüttelte, klapperte auch nichts. Ich hatte deshalb auch nicht wirklich eine Ahnung, was sich darin befinden konnte. Also blieb mir nur die Möglichkeit, sie zu öffnen, wenn ich es herausfinden wollte und meine Neugier war tatsächlich sehr groß, obwohl ich von Überraschungen noch immer kaum etwas hielt. Und das wusste Martin ganz genau, allerdings hatte ihn das schon von Anfang an wenig interessiert und ich bezweifelte, dass er es jemals lassen würde mich mit irgendetwas zu überraschen.
Ich seufzte bei diesem Gedanken und lief zum Bett, um mich dort auf die Kante zu setzen und die Schachtel abstellen zu können. Sie war schwarz und um die Schachtel herum befand sich ein schönes Band, das blau und mit einer Schleife auf dem Deckel zusammengebunden worden war.
Vorsichtig begann ich, die Schleife zu öffnen, indem ich an einem Ende des Bands zog und anschließend entfernte ich es gänzlich. Nun konnte ich den Deckel der Schachtel abnehmen und darunter befand sich zunächst eine Art Folie, die ich anheben musste. Darunter zum Vorschein kam schließlich ein dunkelblaue Stoff und ich fuhr sanft mit meiner Hand darüber. Mir wurde klar, dass Martin wohl anscheinend für mein heutiges Outfit selbst gesorgt haben musste, denn das hier war zweifellos ein Kleid.
Ich holte es schließlich aus der Schachtel und sah es mir genauer an. Es war tatsächlich ein Kleid, genauer gesagt ein Abendkleid, das sündhaft teuer aussah.
„Der Kerl ist verrückt!", murmelte ich, musste mir aber gleichzeitig eingestehen, dass ich mich über dieses Geschenk sehr freute. Martin hatte genau meinen Geschmack getroffen und ich konnte es kaum erwarten, das Kleid anzuprobieren, weshalb ich mir frische Unterwäsche anzog und das auch gleich tat. Es passte wie angegossen und ich fühlte mich wirklich sehr wohl darin. Der Stoff war angenehm weich und ich lächelte, als ich mich im Spiegel betrachtete. Es gefiel mir unbeschreiblich gut, zumal es mir bis zu den Knöcheln ging und somit jegliche Spuren des Unfalls verdeckte - zumindest an den Beinen und da hatte es mich nun einmal zweifelsohne mit am schlimmsten erwischt.
Ich drehte mich nochmals vor dem Spiegel, konnte aber wirklich nichts entdecken, was mich störte. Im Gegenteil, ich fühlte mich das erste Mal seit dem Unfall wieder vorzeigbar.
Um dieses Gefühl noch zu verstärken, setzte ich mich an meine Schminkkommode und begann meine Haare mit Föhn und Bürste zu bändigen. Als sie trocken waren. drehte ich mir noch einige Locken in die Haare und steckte diese wenigstens halb hoch, damit sie mir nicht ins Gesicht hingen. Ich sah in den Spiegel und zupfte dann doch auf jeder Seite wieder ein oder zwei Strähnen vorne heraus, um es nicht zu streng wirken zu lassen.
Nachdem ich mit der Frisur zufrieden war, kümmerte ich mich um mein Make-Up. Ich hatte mich seit Wochen nicht mehr zurecht gemacht und musste zugeben, dass ich mich freute, nun eine Gelegenheit dazu bekommen zu haben. Ich machte mich dann noch auf die Suche nach passendem Schmuck, den ich ebenfalls in meiner Kommode fand. Es hatte durchaus seine Vorzüge, meine Sachen hier bei mir zu haben. Bis auf die Möbel natürlich, denn die standen nach wie vor noch in meiner Wohnung und ich fragte mich noch immer, wie ich es geschafft hatte, vor Martin den Schein zu wahren. Behauptet hatte ich, dass die Wohnung von nun an möbliert vermietet wurde. Und ich fühlte mich auch nicht sonderlich gut damit, Martin nicht alles gesagt zu haben, aber ich wollte einfach abgesichert sein, zumindest in den nächsten paar Wochen. Obwohl ich hoffte, diese Absicherung niemals zu brauchen.
Kleid, Haare, Schmuck und Make-Up waren nun fertig und ich wollte schon hinunter gehen, als mir einfiel, dass ich ja noch Schuhe brauchte. Ich konnte zu diesem Kleid keine meiner bequemen Sneaker kombinieren und so durchsuchte ich meinen Schrank nach einem passenden Paar High-Heels. Wie lange ich es in diesen Tretern aushalten würde, das wusste ich selbst nicht, aber ich wollte, dass alles harmonisch zusammen passte. Ich zog also die hohen Schuhe an und lief damit einige Male im Zimmer auf und ab, um wieder ein Gefühl für diese Art von Schuhen zu bekommen. Wann ich sie das letzte Mal getragen hatte, das wusste ich schon gar nicht mehr. Allerdings klappte das Laufen besser als gedacht und so suchte ich noch eine kleine Tasche, um mein Handy verstauen zu können und um das Outfit zu komplettieren.
Ein letztes Mal betrachtete ich mich im Spiegel und war vollkommen zufrieden mit dem, was ich sah. Und ich hoffte, dass ich Martin auch gefallen würde. Ich wollte ihn auch nicht länger warten lassen und ging die zwei Stockwerke hinunter. Ich hörte Stimmen aus der Küche und folgte ihnen. Als ich zur Tür herein sah und mich meine Familie bemerkte, hörten sie sofort auf zu tuscheln. Ich sah außerdem, wie Martin ganz schnell etwas in der Tasche seines Jacketts verschwinden ließ. Lilli, Lisbeth und Hans saßen mit ihm am Esstisch und ich bemerkte, dass sie mich alle komisch ansahen. Sogar Kira, die auf dem Schoß von Lisbeth saß, blickte mich mit noch größeren Augen an als sie sonst immer tat.
"Ich wäre soweit.", teilte ich mit, um das Schweigen zu unterbinden, das ziemlich beklemmend auf mich wirkte. Mich beschlich das Gefühl, dass hier irgendetwas vor ging, wovon ich nichts wissen sollte.
Da Martin nicht reagierte, sondern mich regelrecht anstarrte, stieß Hans seinem Bruder mit dem Ellbogen in die Seite. "Haben Sie nicht gehört, Herr Bergdoktor? Ihre Bergdoktorin wäre dann soweit." Lilli und Lisbeth lachten über diese Aussage von Hans und auch ich musste schmunzeln, vor allem nachdem Martin nun aus seiner Trance zu erwachen schien und sofort auf stand. "Doch, natürlich hab ich es gehört. Ich war nur... im Gedanken.", erklärte Martin sich und kam zu mir. Dabei stolperte er auf halbem Weg über seine eigenen Füße und konnte sich gerade noch so abfangen, sodass er nicht stürzte.
"Da ist aber jemand tollpatschig.", stellte Lisbeth amüsiert fest. "Nein! Nur abgelenkt weil Gem so hübsch aussieht!", wandte Lilli ein. "Bezaubernd gar.", wandte ihre Oma nun ein und sowohl Hans als auch Lilli stimmten ihr zu. Daraufhin spürte ich, wie ich rot wurde. "Das ist vielleicht etwas übertrieben.", meinte ich und strich mir verlegen eine Strähne hinters Ohr.
Martin war nun bei mir angelangt und zog mich sofort für einen innigen Kuss an sich. "Nein, sie haben schon recht. Du siehst wundervoll aus!" Wir blickten uns nun direkt in die Augen und ich spürte ein Kribbeln in meinem Bauch, genau wie am Anfang unserer Beziehung.
Martin gab mir erneut einen Kuss und ergriff dann meine Hand. "Lass uns los." Ich nickte, ging aber nochmal zu Kira, um mich kurz von ihr zu verabschieden. "Wir bleiben bestimmt nicht zu lange weg.", meinte ich zu Lisbeth. "Und wenn was ist, ich hab mein Handy dabei.", versicherte ich ihr. "Ich glaube, wir sehen uns frühestens Morgen wieder. Und es wird garantiert nichts sein, also genießt euren Abend und konzentriert euch nur auf euch und eure Zukunft, die ganz bestimmt noch sehr viel schönes für euch bereit hält." Lisbeth griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. "Es ist wunderbar, dass du und deine Kleine ein Teil unserer Familie geworden seid. Ich könnte mir keine bessere Schwiegertochter wünschen.", meinte die Bäuerin daraufhin und ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Das übertrug sich nun auch auf mich. "Danke!", war das einzige, was ich hervorbringen konnte, da ich so gerührt war. Ich realisierte auch gar nicht, wie Lilli und Hans grinsten, als Lisbeth mich als ihre 'Schwiegertochter' bezeichnete. Denn offiziell war ich das ja erst, wenn Martin und ich verheiratet waren und bis es dazu kam, würde es wohl noch eine Weile dauern. Jedenfalls glaubte ich das.
"Und jetzt geht endlich, ihr habt euch diesen Abend verdient!", meinte Lisbeth nun und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
Wir verabschiedeten uns also und verließen verließen Hand in Hand das Haus. Es war inzwischen später Nachmittag, aber trotzdem war es noch warm und sonnig, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Martin führte mich zum Mercedes und öffnete mir die Beifahrertür. "Verrätst du mir jetzt, wohin es geht?", fragte ich und stieg ein. "Das wirst du schon sehen.", antwortete Martin grinsend und schloss nach mir die Autotür, ehe er um das Auto lief und selbst einstieg. Kurz darauf fuhren wir vom Hof.