Martin saß an seinem Schreibtisch in der Praxis, er war nervös, stand kurz vor der endgültigen Verzweiflung. Heute war der Tag, vor dessen Ausgang er sich fürchtete. Der dritte Tag. Es war drei Tage her, dass er mit Roman eine Vereinbarung getroffen hatte.
Die Zeit war verflogen, erbarmungslos.
Martin hatte Gemmas Patientenverfügung in der Hand, las sie wieder und wieder durch. Er musste sie schon hunderte Male gelesen haben, er kannte sie auswendig. Und dieses Dokument musste er heute nach Hall bringen. Das hatte er mit Roman vereinbart. Ansonsten würde Roman es selber tun, auch wenn es ihm ebenfalls schwer fiel. Gemmas Zustand hatte sich nicht geändert, kein bisschen. Weder zum guten noch zum schlechten. Sie hatten sie wieder aufgewärmt, die Hypothermiebehandlung war beendet worden, ihre Körpertemperatur lag wieder im Normbereich. Aber sie war nicht aufgewacht oder hatte sonst irgendwelche Anstalten gemacht es bald zu tun. Sie wurde weiterhin beatmet, da sie es nicht selbständig konnte.
Martin hatte unzählige Stunden neben ihr verbracht, aber nichts war passiert. Er hatte gebetet diesen Gang heute nicht machen zu müssen, aber es führte kein Weg daran vorbei. Seiner Familie hatte er bis jetzt nichts erzählt. Der einzige der davon wusste war immer noch Roman. Dieser kam nun in das Behandlungszimmer und fand seinen Kollegen im Gedanken versunken vor.
"Es wird Zeit.", sagte er schweren Herzens und Martin blickte auf. "Die Termine?", fragte Martin. Er hoffte irgendwie noch ein paar Minuten schinden zu können. "Ich habe Fräulein Schneider bereits die Anweisung gegeben, sie abzusagen. Alle. Und auch die für Morgen." Roman hatte Vorkehrungen getroffen, für den Fall das wirklich das ein trat was sie glaubten. Martin nickte. "Komm, Junge. Je mehr wir es hinaus zögern, desto schwerer wird es." Martin erhob sich daraufhin und Fräulein Schneider kam ebenfalls herein. "Ich habe alle Termine abgesagt, wie sie es wollten Dr. Melchinger.", sagte sie. "Sehr gut, Fräulein Schneider. Dann dürfen sie jetzt auch Feierabend machen.", antwortete Roman. "Danke!", freute sich die Sprechstundenhilfe. "Aber ist alles in Ordnung? Sie wirken beide so.. komisch.", stellte Nicole fest. Nun mischte sich Martin ein.
"Gehen sie einfach nach Hause, Fräulein Schneider. Morgen haben sie frei und wir werden sehen, wie es danach weitergeht." Martin zog den weißen Kittel aus, hängte ihn auf und nahm seine Jacke mit nach draußen. "Schließen sie ab, wenn sie gehen.", bat Roman die junge Frau und ging ebenfalls an ihr vorbei. "Dr. Melchinger.", hielt Fräulein Schneider Roman zurück. "Ist irgendwas mit der Frau Doktor?", fragte sie nun direkt nach. "Ich merke schon die ganze Zeit, dass Dr. Gruber noch mehr nachdenkt als unmittelbar nach dem Unfall."
Die sonst so verpeilte Nicole hatte tatsächlich mal etwas gemerkt und lag richtig. Roman nickte deshalb. "Ja, es ist wegen Gemma. So wie es aussieht, werden wir hier bald wieder nur zu dritt sein." Fräulein Schneider war entsetzt. "Aber das bleibt erstmal unter uns, verstanden? Wenn sie irgendwas nach draußen tragen, schmeiße ich sie höchst persönlich raus."
Es war nicht seine Art zu drohen, aber nur so konnte Roman sichergehen das Fräulein Schneider nichts erzählte bevor es nicht komplett beschlossene Sache war. "Ich werde nichts sagen.", versprach Nicole. Roman sah, wie geschockt sie war und der alte Herr nahm die Sprechstundenhilfe kurz in den Arm. Auch sie mochte Gemma sehr, ihre Chefin hatte sie schon so oft vor Martin in Schutz genommen. Gemma konnte zwar auch streng sein und auch sie hatte Fräulein Schneider schon öfter zurecht gewiesen, trotzdem hatte sie kurz darauf immer wieder mit ihr gelacht. Und Gemma ließ Nicole wirklich sehr viel mehr durchgehen als Martin und erzählte ihm auch nicht immer, wenn sie einmal wieder Mist gebaut hatte.
"Abschließen nicht vergessen.", erinnerte Roman Fräulein Schneider nochmals und sie nickte. Roman verließ die Praxis ebenfalls und Fräulein Schneider wischte sich kurz über die Augen. Martin saß bereits im Auto und wartete. Roman stieg in den alten Mercedes und Martin startete den Motor. Dann fuhr er los und sie ließen die Praxis hinter sich.
Währenddessen war Sarah gerade auf der Intensivstation angekommen. Mehrmals während ihrer Schicht schaute sie bei Gemma vorbei, kontrollierte alles akribisch, redete mit ihr. Sie traute den anderen Ärzten natürlich, aber Vertrauen gut Kontrolle trotzdem besser. Aber immer kam das gleiche dabei heraus. Nämlich nichts. Gemmas Zustand war immer unverändert gewesen, jedes Mal bis jetzt. Dabei hoffte Sarah, dass ihre beste Freundin doch noch zu ihr zurück kam. Sie würde ihr alle Zeit der Welt geben, aber irgendwann musste sie einfach aufwachen.
Die junge Ärztin wusste bis jetzt nichts von der Patientenverfügung ihrer Freundin und auch nichts von der Abmachung zwischen Roman und Martin. Sie ahnte nicht, dass Gemma nicht mehr viel Zeit blieb um zu zeigen das sie wieder aufwachen würde.
Gerade als Sarah alles kontrolliert hatte, kam Alexander ins Zimmer. "Du bist schon wieder hier.", stellte er fest, als er Sarah erblickte. "Wo sollte ich auch sonst sein?", fragte sie ihn. "Ich kann's dir nicht verübeln und von mir erfährt ausnahmsweise keiner was.", antwortete Alexander und erkundigte sich nach seiner Patienten und der Lebensgefährtin seines besten Freundes. Sarah konnte nur das übliche erwidern, alles unverändert.
Sie verließen gemeinsam das Zimmer. Auf dem Gang kamen ihnen überraschenderweise Roman und Martin entgegen. Sie hatten die ganze Autofahrt über geschwiegen. Ihre Gesichtsausdrücke waren ernst. "Martin, mein einziger Freund.", begrüßte Alexander seinen Kollegen und gab dann Roman die Hand. "Wir müssen reden, Alexander.", offenbarte Martin ihm ohne ein Wort der Begrüßung. "Unter sechs Augen.", fügte er hinzu, als Sarah näher kommen wollte. Der Ton, den Martin aufgelegt hatte, ließ sofort die Angst in Sarah hoch steigen. Aber sie traute sich nicht zu fragen, was los war. Sie sah den drei Ärzten nach, als sie davon gingen und überlegte was wohl so dringend sein konnte. Und sie war sich sicher, dass es um Gemma gehen musste. Um einen anderen Patienten wohl kaum, zumal Roman mit dabei war, das war noch nie vorgekommen seitdem Sarah hier als Ärztin tätig war.
Die drei Männer saßen kurz darauf bei Alexander im Büro. Noch hatte Martin kein Wort darüber verloren, was Sache war. Roman genauso wenig. Er wollte Martin wenigstens Zeit geben, sich zu ordnen. Dieser Schritt war schwer. Alexander saß den Zweien gegenüber und fragte sich, was wohl so dringend war. Letztendlich hielt er es nicht mehr aus.
"Dürfte ich jetzt den Grund eures unerwarteten Besuchs erfahren?", fragte Alexander schließlich. Martin und Roman schwiegen weiterhin. Aber dann wurde Martin bewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Er holte den Umschlag hervor und legte ihn auf den Schreibtisch vor Alexander ab. "Was ist das?" Doch er bekam von Martin keine Antwort, weshalb er den Umschlag an sich nahm und ihn öffnete. Aufmerksam las er das Dokument.
"Gemmas Patientenverfügung.", stellte Alexander fest. "Ja.", erwiderte Martin knapp. "Seit wann wisst ihr von dem Dokument hier?" Roman übernahm das Reden. Er wollte Martin nicht in Schwierigkeiten bringen, sich selbst ebenfalls nicht. "Wir haben sie heute Morgen gefunden, als wir zufällig Gemmas Akte entdeckt haben. Weder Martin noch ich haben gewusst, dass Gemma ihre Akte zwischen den Akten ihrer Patienten aufbewahrt und wir haben auch nichts von ihrer Verfügung gewusst. Wir haben sie erst gefunden und jetzt hierher gebracht."
Alexander glaubte dem alten Arzt, der das wirklich glaubhaft rüber brachte. "Ihr habt das richtige getan. Aber euch ist hoffentlich bewusst, was das bedeutet. Ich werde noch Rücksprache mit Professor Böning halten müssen, aber nach dem was hier steht werden wir.." Martin konnte nicht länger schweigen. "Wir wissen was getan werden muss, Alexander!", stellte er klar. "Und wir wissen auch, dass Professor Böning das gleiche sagen wird. Das, was da steht, ist Gemmas Wille. Und.. und den werden wir ihr nicht verwehren."
Martin hatte die letzten Tage über alles nachgedacht. Gemma hatte alles festgelegt, sie mussten es nur noch ausführen. Dieser Meinung war auch der Professor, mit dem sie anschließend sprachen. Er war schockiert, nur konnte er gegen diese Verfügung auch nichts mehr ausrichten. Gegen Nachmittag sollten die Maschinen abgestellt werden. Dies beschlossen sie, zwangsweise, einstimmig.