Martin war nicht in der Lage sofort zu antworten, er wusste nicht wie er es sagen sollte. "Schlecht.", sagte er dann kaum hörbar, den Blick immer noch auf das Foto gerichtet. "Wie schlecht?", hinterfragte Roman nervös. "Sehr schlecht.", schluchzte Martin. "Sie liegt im künstlichen Koma, man führt eine Hypothermiebehandlung durch.", führte Martin endlich etwas mehr aus.
"Eine Hypothermiebehandlung?", fragte Roman. "Das macht man nur im äußersten Notfall, wenn der Patient vorher einen Herzstillstand hatte oder gravierende innere Verletzungen." Martin nickte. "Und bei ihr aus beiden Gründen.", antwortete der Jüngere. "Sie wurde mit einem Polytrauma eingeliefert, es folgte eine stundenlange OP wo ich nicht dabei sein durfte. Als sie aufgewacht ist war ich aber bei ihr. Sie hat ganz schlecht Luft bekommen und ständig eindeutige Dinge gesagt, als ob sie es geahnt hat. Sie wollte ein Notfalltestament anfertigen lassen, wollte Kira sehen.. sie hat es geahnt, ganz sicher."
Roman hörte genau zu. "Manche Menschen spüren es wirklich.", meinte er. "Was ist dann passiert?", fragte er. "Nachdem ich davon erfahren habe das sie ein Testament machen will bin ich erstmal raus. Ich weiß von Alexander das sie eine Art.. Nervenzusammenbruch gehabt hat und das sie Sarah, ihre Kollegin, gebeten hat Kira zu holen. Ich bin dann wieder zu ihr, sie hat geschlafen. Sarah kam kurze Zeit später mit der Kleinen und ich hab sie zu Gemma gebracht. Wir haben noch miteinander geredet und dann.. Dann hat sie plötzlich das Bewusstsein verloren. Sofort hat es im Zimmer von Personal gewimmelt. Alexander und Böning wollten das ich gehe, aber ich bin geblieben. Sie haben reanimiert und irgendwann die Hoffnung aufgegeben, ich habe dann weiter gemacht. Aber ihr Herz wollte einfach nicht mehr beginnen zu schlagen. Über 20 Minuten, Roman. Sie war über 20 Minuten klinisch tot!"
Je öfter Martin das erzählen musste, desto schrecklicher klang es.
Roman sog hörbar die Luft ein. Der ältere Herr war entsetzt über das, was Martin ihm erzählte. "Aber sie lebt, ansonsten würden sie doch keine Hypothermiebehandlung durchführen.", schlussfolgerte er. "Ja, sie lebt. Ich habe sie lange im Arm gehalten und plötzlich hat sie wieder das Atmen angefangen. Danach haben sie sofort die Therapie eingeleitet. Gott, wie sich das anhört.. ich hab meine tote Freundin im Arm gehalten!"
Martin konnte es langsam erst glauben, dass das alles wirklich passiert war. "Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.", meinte Roman dann. "Aber ich bin zuversichtlich, dass Gemma wieder gesund wird.", ermutigte er seinen Kollegen. "Das seid ihr alle.", antwortete Martin. "Aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich meine sie war 20 Minuten tot, Roman, 20 Minuten! Es wäre ein Wunder, wenn sie aufwacht und keine Gehirnschäden hat."
Roman konnte verstehen, dass Martin so dachte. Aber er wollte ihn umstimmen. "Wie gesagt, es ist ein Wunder das sie überhaupt wieder das Atmen begonnen hat. Und die Therapie ist dazu da, damit der Körper sich erholen kann und das Risiko was die Gehirnschäden betrifft wird vermindert. Martin, du wirst sehen, in ein paar Wochen ist die Gemma wieder ganz die Alte. Dann wird sie uns hier wieder herum scheuchen, als wäre nichts gewesen."
Martin musste lachen. "Das fehlt mir jetzt schon.", antwortete er dann und schaute wieder das Bild an. "Gem ist eine ganz besondere Frau, weißt du? So habe ich mir meine Partnerin immer vorgestellt, mit ihr.. Das passt einfach. Sie versteht das ich mit der Praxis und meinen Patienten viel zu tun habe, sie verurteilt mich deswegen nicht weil sie es kennt. Sie kann toll mit Kindern umgehen, sogar Lilli kommt bestens mit ihr aus und Kira.. sie ist für mich wie meine eigene Tochter. Ich könnte mir vorstellen Gemma zu heiraten, noch weitere Kinder zu haben, irgendwann ein Haus, in ferner Zukunft Enkelkinder.. Eine Familie, verstehst du? Ich hatte immer nur meine Karriere im Kopf und das es mit den Frauen vor ihr nicht geklappt hat, vielleicht war das so vorgesehen. Ich liebe sie so sehr."
Martin rieb sich über die Augen, bevor die Tränen eine Chance bekamen zu entweichen. "Hast du ihr das jemals so gesagt?", fragte Roman. "Was?" Martin war im Augenblick so durcheinander, dass er zwischen Romans Frage und seinen Worten keinen Zusammenhang finden konnte. "Hast du Gemma das jemals so gesagt? Das du sie heiraten und eine Familie mit ihr gründen willst, meine ich. Das du sie liebst, hast du ihr das jemals so gesagt wie du es jetzt mir gesagt hast?", fragte Roman erneut und etwas ausführlicher. Martin blickte ihn an.
"Natürlich. Ich habe ihr täglich gesagt, dass ich sie liebe.", antwortete Martin. "Und das andere?", wollte Roman wissen. "Naja, sie weiß das hoffentlich.", erwiderte Martin. "Aber was hat das jetzt mit dem Ganzen zu tun?" Martin war zunehmend verwirrt. "Weißt du wie vielen Frauen du schon gesagt hast, du würdest sie lieben? Ich kann mich an jede von ihnen erinnern.", meinte Roman. "Sonja, Susanne, Julia, Andrea.." Roman hätte noch ewig weitermachen können, da Martin als junger Bursche bereits die ein oder andere Liebschaft hatte. Aber Martin unterbrach ihn.
"Roman, ich hab's ja kapiert!", antwortete Martin. "Sicher?" Roman bezweifelte es. "Ich hatte vor Gemma schon viele Frauen, na und? Jeder Mensch macht Fehler. Willst du mir jetzt unterstellen, dass ich sie nicht liebe? Weil das tue ich!", rechtfertigte sich der Chirurg. "Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht solltest du wissen, dass Gemma deshalb noch viele Bedenken hat." Roman hielt es für angebracht, Martin das mal zu sagen. "Hat sie dir das etwa gesagt?", fragte Martin erschrocken. "Wir reden mehr miteinander als du denkst. Und Gemma ist ein gutes Kind, glaub mir. Du solltest ihr das sagen was du mir gerade gesagt hast und das bei der nächstbesten Gelegenheit. Sobald sie aufwacht oder.. Nein, vielleicht sogar in dem Zustand in dem sie jetzt ist und wenn sie wieder wach ist nochmal. Das wird ihr sehr viel bedeuten und ihr bei der Genesung helfen."
Der Ältere stand auf und klopfte Martin auf die Schulter. "Ich hol uns mal Kaffee.", sagte er dann und ging in die Praxis. Nachdenklich blickte Martin ihm hinterher und erkannte das Roman Recht hatte.
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Ich saß immer noch mit Niklas auf dem Arm in der Küche. Je länger ich ihn ansah und mich an die Situation gewöhnen konnte, desto ruhiger wurde ich. Inzwischen hatte er seine Flasche geleert und schaute mich ebenso an wie ich ihn. Ebenfalls ganz ruhig und entspannt war er jetzt. 'Was wäre gewesen wenn er überlebt hätte?', fragte ich mich und strich dem Kleinen über den Kopf. 'Wäre Andrea dann geblieben oder auch gegangen?'
Es wäre eine schwere Zeit gewesen, denn Niklas war in Frühchen und hätte besondere Pflege gebraucht. Ein längerer Aufenthalt im Krankenhaus, vielleicht noch die ein oder andere Operation und das Bangen um sein Überleben wären die Folgen gewesen. Ob Andrea dem Stand gehalten hätte wagte ich zu bezweifeln. Und ob Martin und ich dann jemals zueinander gefunden hätten auch, schließlich hätte er dann ein eigenes Kind gehabt und sich komplett neu organisieren müssen. Aber vielleicht hätte es auch so funktioniert, mit zwei Kindern, irgendwie hätten wir das geschafft. Der Kleine hätte nicht sterben müssen.
Bei diesen Gedanken kamen mir wieder die Tränen. Nun hielt ich Martins Sohn im Arm, den er wahrscheinlich nie kennenlernen durfte. Das einzige Mal hatte er ihn gesehen, als ich ihn nach dem Not-Kaiserschnitt mit in den Operationssaal genommen hatte. Dort wäre er mir beinahe zusammen gebrochen, wollte aber stark sein für Andrea, die nur wenig später einfach abgehauen ist.
Martin wäre dem Kleinen ein guter Vater gewesen. Er ist es für Lilli und Kira behandelt er wie sein eigenes Kind, obwohl ich anfangs nie geglaubt hätte das er ein Kindermensch ist. Aber man konnte das Schicksal nicht ändern und Niklas hatte es hier sehr gut bei Sonja, das war sicher.
Der Kleine lachte mich an und heiterte mich so wieder etwas auf. Ich trank meinen Tee aus und nahm ihn mit in die Stube, um ihn ein wenig zu beschäftigen. Es fühlte sich alles ganz normal an, wie selbstverständlich. Als würde ich hierher gehören.