Kapitel 49

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Der Abend verlief daraufhin noch sehr ausgelassen. Wir hatten viel Spaß und eine Menge zu lachen. Da Wochenende war, konnte Lilli auch länger aufbleiben und wich mir kaum von der Seite. Ich hatte Kira auf dem Arm und wunderte mich, dass sie so ruhig war. Eigentlich sollten Neugeborene doch ununterbrochen quengeln und schreien, zumindest hatte man mir das sehr oft erzählt. Aber das war bei ihr nicht der Fall, jedenfalls jetzt noch nicht und darüber war ich irgendwie froh.
"Dürfte ich sie einmal halten?", fragte Lisbeth mich und schien schon die ganze Zeit auf diese Gelegenheit zu warten. "Gerne, ich müsste nämlich dringend mal wohin.", gab ich zu und übergab Kira an  Lisbeth. Das störte die Kleine nicht im geringsten und ich konnte endlich auf Toilette gehen. Als ich zurück kam, verhielt sich Kira immer noch still und ich beschoss sie erstmal bei Lisbeth zu lassen.
"Du, Gemma..", begann Lilli vorsichtig, nachdem ich mich wieder hin gesetzt hatte. "Ja?", fragte ich. "Was ist das für eine Kette, die du da immer dran hast?" Ich wusste sofort, dass sie mein Medaillon meinen musste. "Die hier?" Als ich auf das Schmuckstück zeigte, nickte sie. "Das ist ein Medaillon und das habe ich von meiner Mutter bekommen.", erzählte ich ihr und machte es ab, da sie es sich näher ansehen wollte. "Das ist ja schön!", meinte sie begeistert. "Allerdings, das ist es.", erwiderte ich nachdenklich und musste sofort an meine Familie denken. Wie es ihnen wohl ging?
"Sind das da deine Eltern?" Lilli hatte das Medaillon geöffnet und deutete auf das kleine Bild, das sich darin befand. Ich war nur in der Lage zu nicken, als ich es erblickte. "Und wer sind die anderen hier?", wollte sie nun wissen und meinte damit das andere Bild auf der anderen Seite. "Das sind meine Geschwister.", antwortete ich. "Drei, zwei Mädchen und ein Junge. Oma, Martin schaut mal." Auf diesem Bild waren alle noch Kinder, es war also lange her.
"Eine sehr schöne Familie.", meinte Lisbeth anerkennend. "Besuchst du sie denn an Weihnachten?", war Lillis nächste Frage und so recht wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Ihr die Wahrheit sagen, wollte ich nämlich nur sehr ungern.
"Ich glaube nicht, Nein.", antwortete ich dennoch ehrlich. "Schade.. deine Geschwister würden sich bestimmt freuen.", meinte Lilli und mir kamen die Tränen, was Martin nicht verborgen blieb. "Lilli, genug jetzt. Ob Gemma ihre Familie besucht oder nicht, ist allein ihre Entscheidung.", stellte Martin klar. Nur er wusste warum ich so reagierte, wenn es um meine Familie ging. "Es ist schon in Ordnung, Martin.", versicherte ich ihm. "Sie interessiert sich dafür und das ist überhaupt kein Problem. Aber weist du, Lilli.." Ich wandte mich nun wieder der Kleinen zu. "Nicht jeder hat so eine Familie wie du es gewohnt bist. Trotz das deine Mama nicht mehr bei dir sein kann, hast du deinen Papa, Martin und deine Oma.", begann ich zu erklären. "Und ich bin mir sicher, dass sie in jeder Lebenslage hinter dir stehen. So eine Familie hatte ich auch mal, bis ich eine falsche Entscheidung getroffen habe und diese war meinem Vater absolut nicht recht." Ich erzählte es ihr nun doch, da ich sie auch nicht anlügen wollte.
"Gem.. du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.", mischte Martin sich nun ein. "Aber ich will es, ich verdränge es schon lange genug und das obwohl ich eigentlich nichts falsch gemacht habe.", antwortete ich. "Was hat dein Papa dazu gesagt?", fragte Lilli. "Er hat mich fort geschickt und ich darf meine Familie nicht mehr sehen. Ich weiß nicht wie es ihnen geht, ob meine Geschwister geheiratet haben oder ob ich mittlerweile vielleicht sogar schon Tante bin."
All diese Gedanken begleiteten mich jetzt schon über Jahre hinweg. "Aber.. aber das geht doch nicht!", protestierte Lilli. "Da muss ich ihr zustimmen. Was soll das? Und was hast du bitte angestellt, dass dein Vater meint solche Maßnahmen ergreifen zu müssen?"
Lisbeth schien wütend und fassungslos zu sein. "Ich habe das gemacht, was ich damals für richtig erachtet habe. Mein Vater ist angesehener Chirurg und er wollte, dass ich ebenfalls in die Chirurgie gehe. Aber das wollte ich nicht und deshalb habe ich mich für die Allgemeinmedizin entschieden, wie ich es von Anfang an gewollt habe.", offenbarte ich ihr.
"Das ist alles?", wollte Lisbeth wissen. "Das ist alles.", erwiderte ich. "Dann ist das Verhalten deines Vaters für mich inakzeptabel!", wetterte Lisbeth drauf los. "Nur weil du deinen Weg gehen wolltest, zieht er so was ab.. ich glaub ich spinne!" Ich konnte also gar nicht so paranoid sein, wenn selbst Personen das sagten die mich erst seit ein paar Monaten kannten. "Mein Vater hat einen speziellen Charakter.", meinte ich nun. "Das ist keine Entschuldigung, du bist schließlich sein Kind! Schämen sollte der sich, wenn ich den jemals in die Finger bekommen sollte.." Lisbeth musste von Martin ausgebremst werden. "Vergiss nicht das Lilli noch am Tisch sitzt, Mama.", sagte er und Lisbeth verstummte augenblicklich. Vermutlich, weil es nicht unbedingt für die Ohren ihrer Enkelin bestimmt war.
"Jedenfalls bin ich trotzdem deiner Meinung. Gemma hat nur das gemacht, was für sie am besten war und der führt sich so auf. Er sollte lieber stolz auf dich sein.", fügte Martin dann aber noch hinzu. "Ist er aber nicht. Und Chirurgie ist eben nichts für jeden. Ich wollte immer eine eigene Familie und das mit der Fachrichtung zu vereinbaren, ist am schwersten. Dann gibt es relativ viele Leute, die total oberflächlich sind und sich für etwas besseres halten. Das gilt natürlich nicht für dich.. Nichts für ungut, Martin." Dieser lächelte aber nur verständnisvoll. "Kein Problem, ich komm damit klar.", antwortete er.
"Das mit deiner Familie tut mir wirklich sehr leid, Gemma. Ich finde nämlich, du bist ein ganz toller Mensch und nach allem was du durch gemacht hast hat sich das sich das nicht geändert. Und irgendwann wird dein Vater hoffentlich einsehen, das er einen großen Fehler gemacht hat. Spätestens, wenn er von der kleinen Maus hier erfährt.", meinte Lisbeth zuversichtlich. "Selbst das wird ihn kalt lassen." Nachdenklich strich ich Kira über die Wange, inzwischen schlief sie seelenruhig.
"Dann sind wir eben ab jetzt deine Familie!", wandte Lilli plötzlich ein und sprang von ihrem Stuhl auf, um mich in den Arm zu nehmen. "Das ist wirklich süß von dir, aber so einfach geht das nicht.", antwortete ich und drückte sie an mich. "Doch, das geht.", widersprach Martin mir nun und auch Lisbeth stimmte zu. "Du gehörst doch jetzt schon mit dazu.", sagte sie. "Genau so sehe ich das auch.", pflichtete Martin seiner Mutter bei und nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurück halten.
"Warum weinst du?", fragte Lilli erschrocken. "Weil ihr einfach so lieb zu mir seid!", antwortete ich und Lilli nahm mich daraufhin wieder in den Arm. "Ich hab eine Frage, Oma.", sagte Lilli, nachdem ich mich beruhigt hatte. "Von denen hast du ja heute ziemlich viele parat, aber stell sie ruhig." Lisbeth, Martin und ich mussten grinsen, da sie heute wirklich sehr viele Fragen stellte.
"Darf Gemma Weihnachten mit uns feiern?" Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. "Das ist wirklich ein schöner Vorschlag, aber ich möchte mich nicht überall mit rein drängen. Weihnachten ist ein Familienfest und.." Martin ließ mich nicht aussprechen. "Wir haben doch gerade festgestellt, dass du mittlerweile sowieso schon dazu gehörst. Und bevor du mit der Kleinen an Heiligabend allein zu Hause sitzt, wäre das doch um einiges besser wenn ihr her kommt." Lisbeth war ebenso dieser Meinung, weshalb es schnell beschlossen war. Da Kira anfing zu quengeln, nahm ich sie wieder zu mir und damit schien sie zufrieden zu sein.
Für Lilli war es allmählich an der Zeit ins Bett zu gehen, weshalb sie uns eine gute Nacht wünschte und Martin sie nach oben begleitete. "Lilli mag dich wirklich sehr.", meinte Lisbeth lächelnd. "Sonst ist sie von den Freunden ihrer Väter ja nicht so begeistert, aber du hast es geschafft an sie ran zu kommen.", fügte sie hinzu. "Sie ist ein ganz besonderes und liebenswertes Mädchen. Für das was sie in den letzten Jahren mitgemacht hat, ist das wirklich nicht selbstverständlich.", erwiderte ich. "Das trifft auf dich aber genauso zu, ich kann deine Eltern einfach nicht verstehen. Und das deine Geschwister das unterstützen.. ich kann und will es einfach nicht begreifen!" Lisbeth wurde damit irgendwie gar nicht fertig, da sie erneut davon anfing.
"Das tun sie auch sicherlich nicht freiwillig. Aber sich meinem Vater ebenfalls zu widersetzen, wäre der größte Fehler den sie machen könnten. Ich möchte nicht, dass sie wegen mir auch noch Ärger mit ihm bekommen und das gilt auch für meine Mutter."
Endlich schaffte ich es, darüber einmal offen zu reden. "Ist sie denn der gleichen Meinung wie dein Vater?", wollte Lisbeth nun wissen. "Nein, zumindest fiel es ihr sehr schwer mich gehen zu lassen. Sie hat noch versucht zwischen uns zu vermitteln, aber vergeblich.", erklärte ich ihr seufzend. "Meiner Mutter war immer nur wichtig, dass wir unseren Weg gehen und das habe ich trotz das sich mein Vater so verhalten hat getan. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie alle denke. An Weihnachten oder anderen Feiertagen ist es besonders schlimm."
Ich schaute meine Tochter an und unterdrückte wieder die Tränen. "Kann ich gut verstehen. Wie hast du denn die letzten Jahre Weihnachten verbracht, wenn ich fragen darf?" Lisbeth interessierte sich wirklich für meine Vergangenheit, das merkte ich. "Allein oder ich habe gearbeitet. Stefan war eigentlich nie an solchen Tagen zu Hause, sondern hat Dienst geschoben und dementsprechend hatte ich niemanden mit dem ich es hätte feiern können.", antwortete ich. "Das muss hart gewesen sein.", meinte Lisbeth mitfühlend.
"Und zu anderen Familienmitgliedern hast du auch keinen Kontakt mehr?" Ich schüttelte leicht den Kopf. "Die Familie meines Vaters lebt in Irland, da etwas zu planen ist immer etwas schwierig und wenn dann sind wir immer alle gemeinsam dorthin gereist. Und die Verwandten meiner Mutter leben größtenteils in Italien, überall verstreut. Die einzige mit der ich noch eine Zeit lang Briefkontakt hatte, war meine Tante. Meine Großeltern führen ein Hotel in Neapel und dort arbeitet sie, aber irgendwann kam keine Antwort mehr. Ich vermute, mein Vater hat herausgefunden das wir noch Kontakt hatten und hat diesen unterbunden."
Lisbeth legte ihre Hand auf meine. "So etwas hast du nicht verdient und du bist hier immer Willkommen. Dieses Jahr werden du und der kleine Wurm Weihnachten nicht mehr allein verbringen, versprochen." Ich lächelte sie dankbar an. "Danke, Lisbeth. Das bedeutet mit wirklich sehr viel." Auch sie lächelte nun und drückte meine Hand ein wenig. "Gerne. Möchtest du noch einen Tee?", fragte sie mich. "Nur, wenn es dir keine Umstände macht.", erwiderte ich und Lisbeth lachte. "Auf keinen Fall, wenn es weiter nichts ist.", sagte sie amüsiert und stand auf.

Die BergdoktorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt