Nach ein paar Minuten zwang ich mich, mich zu beruhigen. Ich konnte ja nicht ewig hier drin bleiben, ansonsten würden die anderen mich noch so vorfinden. Ich atmete tief durch, um das Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen und wartete bis alle Tränen versiegt waren.
Erst dann traute ich mich, aus der Kabine heraus zu treten und stellte mich vor's Waschbecken. Ein Blick in den Spiegel und mir wurde bewusst, dass wasserfeste Wimperntusche bei mir vielleicht doch angebracht wäre. So oft wie ich in letzter Zeit flennte, war es durchaus eine Überlegung wert mir doch eine zu kaufen. Ich nahm mir eines der Tücher aus dem Spender, machte es nass und entfernte damit die verwischte schwarze Farbe unter meinen Augen so gut es ging. Danach richtete ich noch mein Kleid und meine Haare, ich sah wieder weitestgehend normal aus und verließ die Toilette.
Mein Herz hämmerte wie verrückt, als ich mich wieder an den Tisch setzte und versuchte mich zusammen zu reißen. So zu tun als wäre nichts gewesen, war für mich eine harte Probe, die es zu bestehen galt. Auch Martin schien dies nicht leicht zu fallen, aber da mussten wir nun durch. Immer wieder trafen sich unsere Blicke und irgendwann fiel Alexander auf, dass etwas nicht stimmte.
"Geht's dir nicht gut?", fragte er mich und ich sah meine Chance, dieser Situation früher als geplant zu entkommen. "Ich glaube es wäre besser, du bringst mich zum Gasthof zurück. Mir ist schon seit vorhin so schlecht und es wird immer schlimmer, außerdem hab ich totale Kopfschmerzen."
Und das war ganz und gar nicht gelogen, ich fühlte mich miserabel. "Die Schwangerschaft macht dir wohl sehr zu schaffen, viel mehr als mir zumindest.", meinte Andrea. "Bring sie nach Hause, Alexander. Es bringt nichts, wenn sie sich den restlichen Abend über quält.", fügte die Anwältin noch hinzu. "Andrea hat Recht, Gemma gefällt mir ganz und gar nicht.", warf nun Martin ein und ich verkniff mir jegliches Kommentar. Auch Alexander teilte diese Meinung und während er darauf bestand die Rechnung für uns zu zahlen, ging ich schon mal raus zum Auto. Ich wollte nur noch weg von hier und diesen Abend schnellstens vergessen, genau wie ich Martin vergessen wollte.
Die Zeit verflog regelrecht und das Abendessen lag mittlerweile schon wieder fast zwei Wochen zurück. Gestern hatte ich meinen Ultraschalltermin bei Dr. Wagner gehabt, nur wusste ich das Geschlecht meines Babys noch nicht. Denn es war falsch gelegen, man hatte also nichts erkennen können. Jedoch war es gesund und das war die Hauptsache. Und egal ob Junge oder Mädchen, ich liebte es jetzt schon und da würde das Geschlecht nicht das geringste dran ändern. Außerdem hatte ich vor drei Tagen die Zusage für die Wohnung bekommen, die früher als erwartet gekommen war und eigentlich sollte ich mich unglaublich darüber freuen. Diese Freude hielt sich aber in Grenzen, denn vielleicht war es doch besser ich würde Tirol verlassen. Ich wusste selbst das ich mich endlich entscheiden musste, nur fiel es mir so unglaublich schwer. Jedenfalls hatte ich die Wohnung vorerst angenommen und würde es versuchen, denn Martin war ich die ganze Zeit nicht mehr begegnet.
Morgen wollte ich endlich nach München fahren, um mit meinem Vermieter zu sprechen und um mir schon ein paar Sachen von dort mitzunehmen. Zumindest meine aller persönlichsten Dinge, den Rest würde ich mir nach und nach neu anschaffen. Susanne hatte sich bereit erklärt, mir bei der Auswahl meiner Einrichtung zu helfen und mir auch beim streichen unter die Arme zu greifen. Ebenso wie ein paar meiner neuen Kollegen, mit denen ich mich blendend verstand.
Gerade brachte ich ein paar Proben ins Labor, als mein Pieper schon wieder los ging. Ich schaute nach und konnte gleich wieder zurück auf Station, denn Dr. Kahnweiler verlangte nach mir. "Was gibt's?", fragte ich ihn, als ich oben ankam. "Ich habe einen Sonderauftrag für dich.", erklärte er mir und ich wurde natürlich neugierig. "Da bin ich aber gespannt.", meinte ich. "Ob du gleich immer noch so begeistert bist, bezweifle ich.", gestand Alexander mir. "Ich bin offen für alles.", entgegnete ich ungeduldig. "Da gibt es jemanden, der einen Übersetzer braucht. Du sprichst doch italienisch, oder?" Ich nickte. "Ja, annähernd so gut wie Deutsch. Auf welcher Station brauchen sie mich denn als Dolmetscherin?"
Nur ahnte ich schon, dass dahinter viel mehr steckten musste. "Auf keiner, du wirst außerhalb der Klinik gebraucht.", offenbarte Alexander mir nun. "Martin?", fragte ich und er nickte. "Auf keinen Fall, Alexander. Vergiss es!" Ungerührt ging ich an ihm vorbei, da ich wirklich besseres zu tun hatte. Aber er ließ mich nicht so einfach davon kommen.
"Wenn du dich weigern willst, na gut. Die Schwestern haben bestimmt ein paar schöne Aufgaben für dich übrig, die du dann erledigen kannst!", rief Dr. Kahnweiler mir nach und das bedeutete bestimmt, ich würde Patienten mit Emesis oder Diarrhoe behandeln müssen. Zumindest war das mit Assistenzärzten in meinem Ausbildungskrankenhaus passiert, wenn sie Anweisungen nicht gehorcht hatten. Sie wurden den Schwestern überlassen und durften dann meistens die Patienten mit Durchfall oder Erbrechen übernehmen. Da ich darauf überhaupt keine Lust hatte, machte ich auf dem Absatz kehrt, auch weil das andere Personal dieses Gespräch nicht mitbekommen musste.
"Drohst du mir etwa?", fragte ich und merkte, dass ich Alexander mit meinem wütenden Unterton und meinen Blicken einschüchterte. "Nein, ich bitte dich nur um einen Gefallen.", stellte Alexander die Sache richtig. "Du meinst wohl, du bittest mich um einen Gefallen für Martin!", entgegnete ich. "Ich bin Angestellte dieser Klinik und deshalb nicht dazu verpflichtet, ihm zu helfen.", meinte ich. "Das stimmt, aber wir sind seine Freunde. Meinst du nicht, dass du das als Freundschaftsdienst ansehen und schnell zu ihm in die Praxis fahren könntest?", versuchte mein Kollege mich weiterhin zu überzeugen. 'Du bist vielleicht sein Freund, mich geht er nichts mehr an!', dachte ich und biss mir auf die Zunge, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen. Trotzdem war ich kurz davor nachzugeben.
"Worum geht es überhaupt genau?", wollte ich wissen und Alexander berichtete mir von einem Ehepaar, das nur italienisch sprach und das bei Martin im Wartezimmer saß. Sie waren wohl auf der Durchreise und ihr Kind hatte sich verletzt, aber nun gab es gewisse Verständigungsprobleme. Also stimmte ich zu, aber nur um das Wohl des Kindes wegen und bestand auf frühzeitigen Feierabend. Alexander ging auf meine Forderungen ein, also zog ich mich um und fuhr nach Ellmau.
Kaum hatte ich geparkt und den Motor abgestellt, kam Martin schon heraus. Ich stieg aus, nahm meine Sonnenbrille ab und setzte sie mir auf den Kopf. "Hallo, Gem.", begrüßte Martin mich, erhielt aber keine Antwort. Stattdessen holte ich noch meinen Kittel aus dem Wagen, den ich mir extra aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte und zog ihn gleich an.
"Du bringst dir extra einen Kittel mit? Ich hab genug hier, obwohl du ja eigentlich überhaupt keinen bräuchtest.", meinte Martin, der mittlerweile vor mir stand. "Ich nehme von dir nichts mehr an, das gilt selbst für einen Fetzen Stoff.", entgegnete ich bissig. "Und falls es sich wirklich um ein Kind handelt, so wie Alexander es mir gesagt hat, wirke ich so wenigstens ein wenig vertrauenswürdiger."
Ich hatte schon Kinder erlebt, die Kollegen ohne dieses Markenzeichen nicht geglaubt hatten, dass sie tatsächlich Ärzte waren. "Es ist ein Junge, circa sechs oder sieben Jahre alt. Die Eltern kamen vorhin mit ihm her, aber sie sprechen nur italienisch und deshalb kann ich den Kleinen nicht richtig behandeln. Deshalb hab ich gedacht, du könntest mir helfen.", erklärte Martin sachlich. "Hast du es schon mit Englisch probiert? Weil dann wäre das hier für mich vergeudete Zeit."
Ich wollte ihn nicht glauben lassen, dass ich deshalb jetzt wieder normal mit ihm redete. "Ja, aber Fehlanzeige. Wie schon gesagt, sie sprechen alle drei nur Italienisch.", antwortete Martin. "In Ordnung, ich sehe mir den Jungen an. Aber danach bin ich gleich wieder weg!", stellte ich klar und ging einfach an ihm vorbei in die Praxis, wo Roman am Schreibtisch von Frau Schneider saß.
"Gemma, schön dich zu sehen!", sagte er, stand auf und umarmte mich kurz. "Beruht auf Gegenseitigkeit." Roman mochte ich sehr, schon von Anfang an. "Du bist hier zwecks übersetzen, hab ich recht?", fragte er. "Ja, richtig.", bestätigte ich ihm. "Wenn das so ist, dein Patient sitzt da hinten."
Er schaute in Richtung Wartezimmer, in dem drei Personen saßen. "Ihr Patient?", fragte Martin schon beinahe empört. "Allerdings. Oder bist du plötzlich doch der italienischen Sprache mächtig?" Martin schüttelte verwirrt den Kopf. "Also. Dann lass unsere junge Kollegin das mal machen."
Ich musste mir das Lachen nun verkneifen, egal wie schwer es mir auch fiel. Denn Martin schaute nun richtig beleidigt und eifersüchtig drein, da sein Kollege mich regelrecht in Schutz nahm. "Das hier ist immer noch meine Praxis.", stellte er klar und Roman grinste. "Ist uns bekannt, aber Gemma schafft das schon. Der Junge wollte ja von dir nicht mal einen Bonbon annehmen, das sagt schon alles."
Der ältere Herr nahm einen Stapel Akten vom Schreibtisch und drückte ihn Martin in die Hände. "Hier bitteschön, Herr Doktor. Nachdem Frau Schneider ja nicht da und das deine Praxis ist, kannst du auch mal schön den Bürokram machen. Ich bin draußen, falls ihr mich braucht."
Roman ging daraufhin einfach zur Tür hinaus und Martin ließ den schwer aussehenden Stapel wieder auf den Tisch plumpsen. Dabei gerieten die obersten Akten ins Rutschen und landeten auf dem Boden, wobei einige lose Blätter heraus fielen. "Ups.. viel Spaß beim sortieren.", sagte ich schadenfroh und grinste, danach widmete ich mich endlich der kleinen Familie.
"Buongiorno, sono Dr. Gemma Morrow. Cosa è successo?" Ich stellte mich vor und fragte was passiert war, der Vater der Familie schilderte mir kurz den Vorfall. Sie hatten zusammen Verwandte in Deutschland besucht und waren nun auf der Heimreise. Riccardo, so war der Name des Jungen, hatte sich bei einer Pause auf einem Rastplatz hier in der Nähe die Hand in der Autotür eingeklemmt und daraufhin waren sie hierher gefahren. Frau Morelli bat mich ihrem Sohn zu helfen und das würde ich natürlich tun, deshalb nahm ich die Beiden gleich mit ins Behandlungszimmer. Der Kleine wirkte sehr verängstigt, was ich auch vollkommen nachvollziehen konnte. Trotzdem versuchte ich sein Vertrauen zu gewinnen und nachdem ich ihm einige Zeit gut zugeredet hatte, ließ er mich seine Hand untersuchen.
Meiner Einschätzung nach war sie nur geprellt, keineswegs gebrochen. Ich würde die Hand verbinden und ihm ein leichtes Schmerzmittel geben, jedenfalls wäre das mein weiteres Vorgehen gewesen. Nur fand ich nirgends das, wonach ich suchte und ich musste wohl oder übel Martin fragen was er wo in welchem Schrank aufbewahrte. Obwohl ich eigentlich nicht großartig mit ihm reden wollte.