Es vergingen fast fünf Stunden, bis alle drei ihre Aussagen gemacht hatten. Den Täter würde man wegen Verdunkelungsgefahr nicht laufen lassen und Paul hatte Martin Hoffnung gemacht, dass er ohne Verurteilung aus der Sache nicht mehr raus kommen würde. Anstandshalber hatte Martin nach seiner Aussage noch auf Sarah gewartet und danach war er ins Krankenhaus gefahren. Sarah hatte er gleich nach Hause geschickt, so abgekämpft wie sie gewirkt hatte.
Martin war ebenfalls todmüde, musste aber noch Lilli abholen, die ja in der Klinik bei Gemma geblieben war. Auf dem Gang der Intensivstation traf Martin auf Alexander, der auf ihn gewartet hatte. "Herrgott, Martin! Wo warst du?! Dein Kind sitzt seit Stunden allein bei deiner Freundin im Zimmer und.. sag mal, was ist denn mit deinem Gesicht passiert und deinen Händen?!"
Nun erst merkte Martin, wie geschwollen seine Hände waren und wahrscheinlich hatten die wenigen Schläge die der Mann ihm hatte verpassen können wohl auch ihre Spuren hinterlassen. Es mussten einer oder zwei gewesen sein, der allerdings hatte haufenweise wegstecken müssen, weshalb es Martin egal war. Dieser Mensch hatte es nicht anders verdient und wenn man ihn nicht weg gezogen hätte, dann hätte Martin ihm noch schlimmeres zugefügt.
"Nicht jetzt, Alexander!", entgegnete Martin schroff und ging einfach an seinem perplex dreinblickenden Kumpel vorbei zu Gemmas Zimmer. Schon durch die Scheibe sah er, dass Lilli noch da, aber nicht mehr wach war. Denn sie schlief. Zwar saß sie noch halbwegs auf dem Stuhl, aber ihren Kopf hatte sie neben Gemma aufs Bett gelegt und hielt immer noch ihre Hand. Martin schlich hinein und versuchte Lilli auf den Arm zu nehmen, ohne sie aufzuwecken. Sie öffnete zwar kurz die Augen, diese fielen ihr doch kurz darauf wieder zu. Martin verabschiedete sich noch von seiner tief schlafenden Lebensgefährtin, bevor er das Zimmer und bald auch das Klinikum verließ.
Er setzte Lilli ins Auto, schnallte sie an und stieg dann selbst ein. Bevor er los fuhr sah er auf sein Handy, unzählige Anrufe von seiner Mutter und Hans. Sie würden bestimmt sauer sein, aber er würde ihnen alles erklären sobald er auf dem Gruberhof eintraf.
Nur wusste Martin noch nicht wie er seiner Mutter und seinem Bruder gegenüber treten sollte. Er wusste ja selbst kaum noch, wie er mit der Situation zurecht kommen sollte. Es war alles so grausam, ungerecht und verwirrend. Und er wusste, dass er von seiner Mutter gleich eine Standpauke zu erwarten hatte. Aber er konnte sich dem nicht entziehen, schließlich gehörte Lilli ins Bett und Kira war ebenfalls bei Lisbeth und Hans auf dem Gruberhof. Wenigstens hatten sie den Verantwortlichen jetzt geschnappt und er hoffte, dass das Gericht zu einem angemessenen Urteil kommen würde. Irgendwann, wenn die Verhandlungen überstanden waren, wenn Gemma wieder aufgewacht war. Das hatte für Martin die oberste Priorität, obwohl er den Typen beinahe erschlagen hätte, wenn keiner dazwischen gegangen wäre.
Martin parkte vor dem Haus und stellte den Motor ab. Lilli war wieder tief und fest eingeschlafen, weshalb er sie aus dem Sitz nahm und sie sich an ihn klammerte. "Sind wir zu Hause?", fragte das Mädchen, das inzwischen wieder ein wenig wach geworden war. "Ja und du gehörst ins Bett, du kleines Äffchen.", antwortete Martin und schloss die Hintertür seines Mercedes. Von Lilli kam keine Reaktion mehr, sie war einfach zu müde und das war verständlich.
Martin wollte gerade die Tür öffnen, als diese von innen auf gemacht wurde und Bruder vor ihm stand. Er sah ziemlich sauer aus, schließlich hätte Martin ihm über alles informieren sollen. Das hatte er aber nicht getan.
"Wo kommt's ihr denn jetzt her?!", verlangte Hans zu wissen. "Aus dem Krankenhaus.", antwortete Martin und ging an ihnen vorbei ins Haus. "Und da rufst du nicht mal zurück?! Mensch, wir haben uns Sorgen um Lilli gemacht! Martin, du bleibst jetzt hier!", befahl Hans seinem Bruder, der sich bereits auf der Treppe befand. "Ich bringe Lilli ins Bett, dann komme ich und erkläre es euch.", entgegnete der Arzt. "Bitte nicht streiten!", murmelte Lilli verschlafen und blickte zu Hans hinunter. "Wir streiten nicht.", erwiderte dieser, denn er merkte das sowohl Lilli als auch sein Bruder offenbar ziemlich fertig waren. "Komm dann in die Küche.", bat er Martin noch, der Lilli den Rest der Treppe hoch trug und sich nicht mal mehr nach hinten herumdrehte.