Die nächsten drei Tage trauerte ich Martin regelrecht hinterher und redete während meiner Schicht im Gasthof fast überhaupt nichts.
Susanne blieb das natürlich nicht verborgen und fragte mehrmals nach ob es mir gut ging, woraufhin sie immer die gleiche Antwort erhielt. "Ja, es geht mir gut.", beteuerte ich gerade wieder. "Ich glaube dir das aber nicht, seit ein paar Tagen bist du wieder so nachdenklich. Ist etwas mit dem Baby?", fühlte sie mir weiter auf den Zahn. "Mit dem Baby ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Ich weiß momentan nur nicht wo mir der Kopf steht, das.." Da mein Handy klingelte, konnte ich nicht ausreden. Seitdem ich die Bewerbung abgegeben hatte, trug ich das immer bei mir, bereute diesen Schritt aber inzwischen. Konnte ich unter diesen Umständen wirklich hier bleiben?
"Das ist die Klinik.", stellte ich nach einem Blick auf den Display fest. "Dann geh schon ran!", erwiderte Susanne und nachdem ich nochmal durch geatmet hatte, hob ich ab. Es war die Sekretärin des Chefarztes, die mich zu einem Vorstellungsgespräch einlud und damit hatte ich schon gar nicht mehr gerechnet.
"Und?", fragte Susanne sofort, als ich aufgelegt hatte. "Ich hab ein Vorstellungsgespräch.", berichtete ich ihr und konnte mich nicht wirklich darüber freuen. "Aber das ist doch toll!", meinte meine Freundin begeistert. "Oder nicht?" Ich zuckte nur mit den Schultern. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich will.", gestand ich ihr und lehnte mich gegen den Tresen. "Noch hast du den Job ja nicht und kannst immer noch ablehnen, aber du solltest dir unbedingt anhören was sie dir anbieten. Wann ist das Gespräch denn überhaupt?", fragte sie. "Jetzt.. also, ich soll sofort vorbei kommen.", antwortete ich. "Dann los, mach dich fertig!", befahl Susanne mir. "Ich kann doch jetzt nicht einfach gehen!", protestierte ich. "Doch, du kannst und du wirst! Ich schaue mir dieses Häufchen Elend nämlich nicht mehr länger an und falls du diesen Job wirklich bekommen solltest, wovon ich ausgehe, kannst du endlich weiter nach einer Wohnung suchen."
Und genau das wollte ich bis vor kurzem ja noch, endlich wieder ein geregeltes Leben und da war ein Job erstmal das wichtigste.
Schließlich hatte Susanne mich doch überzeugen können zu diesem Gespräch zu gehen. In Windeseile hatte ich mich umgezogen und war zur Klinik gefahren, wo ich nun angespannt nach dem Büro des Leiters dieser Einrichtung suchte. Ich schaffe es schließlich mich durch zu fragen und stand nun vor der Tür von Professor Böning.
Meine Aufregung wuchs, als ich anklopfte und nach einem 'Herein' den Raum betrat. "Guten Tag, ich bin Dr. Gemma Morrow. Man hat mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.", stellte ich mich vor und der etwas ältere Herr hinter dem Schreibtisch nickte. "Ich weiß, wer sie sind.", erwiderte er und lächelte. "Setzen sie sich doch, dann können wir gleich beginnen." Dies tat ich auch und versuchte meine Nervosität zu verbergen.
"Ihre Bewerbung hat mich gestern erst erreicht und ganz ehrlich hat es mich ein wenig überrascht, denn die Bewerbungsfrist ist letzte Woche abgelaufen und wir haben bereits jemanden für diese Stelle gefunden." Ich spürte, wie ich rot wurde, da es mir wirklich peinlich war. Vor lauter Euphorie hatte ich gar nicht mehr darauf geachtet, bis wann man sich hätte bewerben können. Aber warum man mich trotzdem hierher bestellt hatte, wollte ich natürlich wissen.
"Das habe ich wohl überlesen.", gab ich kleinlaut zu. "Anscheinend. Und da sie, wie ich hier entnehmen kann, schwanger sind, wäre es wohl auch nicht das richtige für sie gewesen." Das hatte ich vorweg gleich hin geschrieben, damit im Nachhinein keine Missverständnisse entstehen konnten. "Es war auch eher spontan, dass ich mich dafür entschieden habe. Ich brauche unbedingt einen Job, um mir hier eine Wohnung nehmen zu können.", erklärte ich dem Professor. "Das verstehe ich und deshalb sind sie ja jetzt hier, damit wir eine Lösung finden können. Ihre Bewerbung war mit Abstand herausragend und deshalb würde ich sie trotzdem gerne einstellen, jedoch nicht als Assistenzärztin."
Nun war ich hellhörig geworden. "Sondern?", fragte ich. "Als das, was sie bereits sind, Allgemeinmedizinerin. Und falls sie nächstes Jahr immer noch Interesse an einer weiteren Facharztweiterbildung zur Chirurgin haben, würde sich da etwas machen lassen." Von diesem Angebot war ich überwältigt. "Das ist jetzt kein Scherz?", fragte ich ungläubig. "Nein, natürlich nicht.", erwiderte der Professor. "Dann ist das ein wirklich tolles Angebot und ich bräuchte den Job auch sehr dringend, aber.." Ich wusste nicht wie ich meine Zweifel in Worte fassen konnte, ohne Mitleid zu erregen. "Aber sie fühlen sich überrumpelt."
Damit hatte er es sozusagen auf den Punkt, auch wenn mir zusätzlich noch viele andere Dinge durch den Kopf gingen. Nur konnte ich diese wohl schlecht zugeben. "Etwas.", gab ich zu. "Und das ist auch vollkommen verständlich. Aber natürlich würde ich ihnen eine gewisse Bedenkzeit gewähren, jedoch sollten wir erstmal alles weitere besprechen." Damit war ich einverstanden und wir redeten noch über eine Stunde lang, Professor Böning nahm sich also wirklich viel Zeit und beantworte geduldig alle meine Fragen. Sollte ich tatsächlich anfangen hier zu arbeiten, könnte ich mir meine Abteilungen frei aussuchen und mal überall aushelfen. Außerdem versicherte er mir, dass ich nach der Geburt meines Kindes weiterhin meine feste Anstellung behielt und das Honorar war mehr als ausreichend. Außerdem gab es die Möglichkeit für mich teilweise Teilzeit zu arbeiten, um mich um mein Baby kümmern zu können und einen Platz in der Krankenhauskita würde mir auch zustehen. Es handelte sich also um einen Traumjob, bei dem jeder sofort ja sagen würde.
Nur nach allem was vorgefallen war, wusste ich nicht ob ich wirklich hier bleiben sollte und eigentlich hatte ich mir auch ganz andere Ziele gesetzt. Nie wollte ich Chirurgin werden, geschweige denn überhaupt jemals wieder in einem Krankenhaus arbeiten. Aber trotzdem war es verlockend und irgendwann konnte ich immer noch eine Praxis eröffnen, schließlich war ich noch jung und hatte in ein paar Jahren noch mehr Erfahrung als jetzt. Deshalb sagte ich letztendlich zu und würde schon übermorgen meinen ersten Arbeitstag haben. Zunächst einmal auf Probe, falls ich mich nämlich doch noch umentscheiden sollte, würde ich leichter kündigen können.
Ich verabschiedete mich von Professor Böning und konnte nicht wirklich glauben, dass ich mich tatsächlich dafür entschieden hatte. Als ich Susanne später davon berichtete, war sie total begeistert und freute sich sehr für mich. Auch wenn es bedeutete, das ich meine Tätigkeit als Kellnerin hier aufgeben musste, es war vielleicht doch die richtige Entscheidung gewesen und irgendwie konnte ich mich nun ebenfalls freuen. Susanne war der Meinung, ich sollte meine noch freie Zeit genießen und deshalb strich sie mich gleich aus dem Schichtplan. Da ich nun bald festes Einkommen haben würde, konnte ich mir getrost auch ein paar der ausgesuchten Wohnungen anschauen.
Nacheinander telefonierte ich die Vermieter ab und bekam bei einem gleich am nächsten Tag einen Besichtigungstermin, auch noch bei der Wohnung die mir am meisten von der Beschreibung her gefiel. Drei Zimmer, Küche, Bad und ein kleiner Balkon. Die Miete war absolut akzeptabel und würde perfekt zu meinem zukünftigen Gehalt passen. Auch der Vermieter machte mir gleich einen sehr seriösen Eindruck und nach einer freundlichen Begrüßung, führte er mich herum. Das Haus wirkte von außen sehr gepflegt und modern, irgendwie erinnerte es mich ein wenig an München.
"Insgesamt leben hier fünf Parteien zusammen, ihre Wohnung befindet sich im zweiten Stock.", erklärte mir Herr Gebhardt und zusammen liefen wir die Treppe hoch. Er schloss die Tür auf und ließ mir den Vortritt, dann zeigte er mir die einzelnen Räume. "Das war das Wohnzimmer des vorherigen Mieters.", kommentierte er, als wir in einem großen Zimmer standen, wo sich auch die Tür hinaus zum Balkon befand. Alles wirkte sehr sauber und war in schlichtem weiß gestrichen, beim Boden handelte es sich um Laminat, den ich persönlich schon immer bevorzugt hatte. Auch die anderen Räumlichkeiten fand ich so vor, Bad und Küche machten ebenfalls einen guten Eindruck. Zwar fehlte komplett das Mobiliar, aber dies konnte ich mir von dem Geld meiner Eltern durchaus leisten. Von München wollte ich wenn dann nichts her holen, denn alles würde mich an Stefan erinnern.
Abschließend ließ der Vermieter mich nochmal allein durch die Wohnung gehen und insgeheim stellte ich mir schon die Einrichtung der Zimmer vor. Die Wohnung war einfach wie gemacht für mich und mein Kind, das stand jedenfalls schon mal fest. "Gefallen ihnen die Räumlichkeiten?", fragte der Vermieter, der plötzlich unerwartet hinter mir stand. "Ja, sogar sehr.", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Ich könnte mir wirklich vorstellen hier einzuziehen. Die Lage ist perfekt und die Miete erschwinglich, so habe ich es mir vorgestellt." Ich kam aus dem Schwärmen beinahe nicht mehr raus und natürlich wusste ich, dass ich nicht die einzige war die sich hierfür interessierte. "So muss es sein und ich bin ehrlich.. sie gehören jetzt schon zur engeren Auswahl, was die Interessenten betrifft. Eine werdende Mutter, die bald alleinerziehend sein wird und trotzdem so viel Lebensfreude ausstrahlt trifft man selten. Ich meine sie scheinen wirklich einen Plan davon zu haben, was sie wollen und was nicht." Das sah ich sehr skeptisch, da genau das Gegenteil der Fall war. Aber vielleicht zeigte ich meine Ängste doch nicht so sehr wie ich dachte.
"Wie viele Leute haben diese Wohnung außer mir besichtigt?", fragte ich, damit ich ungefähr meine Chance einschätzen konnte. "18. Also bis jetzt schon sehr viele und Anfang des nächsten Monats werde ich mich entscheiden.", erklärte mir der Mann und bis dahin waren es noch fast drei Wochen. "Das sind einige.", meinte ich und wahrscheinlich konnte ich das hier auch getrost vergessen, auch wenn ich zu den Favoriten gehörte. "Allerdings und die Entscheidung wird mir nicht leicht fallen, aber es ist noch ein wenig Zeit. Zuerst muss noch die Heizungsanlage überprüft und wahrscheinlich ausgetauscht werden, deshalb diese lange Frist von drei Wochen."
Solange würde Susanne mir bestimmt noch Asyl gewähren, das hoffte zumindest. Auch wenn ich mich in diese Wohnung wortwörtlich schon verliebt hatte, das Glück war momentan nicht gerade auf meiner Seite und vielleicht sollte ich wirklich zurück nach München gehen. Nur hatte ich jetzt einen Job angenommen, bei dem ich wenigstens die paar Wochen Probezeit durchziehen wollte und danach würde ich weitersehen. Jedenfalls wollte ich nicht noch nach einer anderen Wohnung suchen, denn ich wollte es mir etwas leichter machen. Sollte ich die Wohnung bekommen würde ich offiziell hier bleiben, wenn nicht ging es für mich zurück nach Deutschland.
Nach der Besichtigung fuhr ich zurück zum Gasthof, um etwas etwas zu essen. Den ganzen Tag hatte ich das noch nicht getan und nun wurde es höchste Zeit, denn mir knurrte der Magen und außerdem musste ich auch an mein Baby denken. Susanne kümmerte sich persönlich darum und ich fand es einfach lieb, wie sehr sie auf mich Rücksicht nahm und das obwohl wir uns noch nicht sehr lange kannten.
Nach dem Essen sah ich mir nochmal die Fotos von der Wohnung an, die ich gemacht hatte und stellte es mir eingerichtet wunderschön vor. Dort wollte ich zukünftig wohnen, sollte es denn überhaupt klappen und sonst nirgends.
"Jetzt hab ich Zeit.", meinte Susanne und setzte sich zu mir. Sie hatte vorhin schon gesagt, sie würde mich über die Wohnung ausfragen, aber es war heute wieder einmal sehr voll und da hatte sie eben viel zu tun. "Soll ich euch nicht doch helfen?", fragte ich und sofort schüttelte Susanne den Kopf. "Nein, wir schaffen das schon. Auch wenn du mir gute Dienste geleistet hast, bereite dich am besten mental auf Morgen vor."
Damit hatte sie nicht ganz unrecht, denn mein erster Arbeitstag stand unmittelbar bevor. "Vorbereiten würde ich mich auch so, keine Sorge.", versicherte ich ihr. "Gemma, Nein heißt Nein.", stellte meine Freundin unmissverständlich klar. "Ich wollte nur helfen.", murmelte ich und sie grinste. "Ich weiß. Aber jetzt erzähl mal, wie ist der Besichtigungstermin gelaufen?" Begeistert erzählte ich alles und zeigte ihr natürlich auch die Bilder, woraufhin sie meine Schwärmereien nachvollziehen konnte. "Wenn du da nicht einziehst, dann nehme ich die Wohnung. Hast du schon eine Zusage?" Dies verneinte ich. "Erst in ungefähr drei Wochen und außer mir gibt es noch 18 weitere Interessenten. Und falls ich sie nicht bekommen sollte, bleibe ich in München und suche dort weiter. Ich muss mir ja Prioritäten setzen, ansonsten werde ich mich nie entscheiden können." Susanne nickte. "Aber es wäre total schade, wenn du tatsächlich zurück gehen würdest. Hab ich dir ja schon mal gesagt."
Den kompletten Nachmittag blieb ich noch unten und unterhielt mich gelegentlich mit Susanne. Am Abend konnte ich kaum einschlafen, so aufgeregt war ich wegen Morgen.