Endlich vereint! Im Traum durchströmte den jungen Burgherren ein vertrautes Gefühl der Zufriedenheit. Er stand mit einer Gruppe von Leuten vor einem Abgrund mit weitem Blick über ein Tal und das dahinterliegende glitzernde Meer. Ein Drache hing am äußersten Rand der schroff abfallenden steinernen Klippe und zwinkerte ihm zu. In der Vertiefung dahinter erhob sich eine eindrucksvolle Pyramide, umgeben von den Flachdächern einer schier endlosen Stadt. Eingefasst von Bergen und dem Ozean lag die majestätische Großstadt in der aufgehenden Morgensonne friedlich unter ihnen.
Eine Frau zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sie war eine Stammesangehörige der Katas und hätte als ranghöchste Anwesende an seiner Position stehen müssen. Stattdessen flüsterte sie mit einem Vertreter aus der Gilde der Diebe und sah dann traurig zu ihm.
Er hob an etwas zu sagen, als die Frau wie durch Zauberhand emporgehoben wurde. Sie hing starr in der Luft und das Entsetzen auf ihrem Gesicht spiegelte sich in seinen eigenen Gefühlen. Es war klar, dass Schreckliches passieren würde.
Wie immer erwachte er in diesem Moment. Erschrocken fuhr Josuan auf und stieß sich den Kopf an einer Dachschräge, die direkt über ihm war. Fluchend sah er sich um und erkannte nur langsam, wo er sich befand. Nach und nach beruhigte er sich. Er atmete tief ein. Es roch holzig und etwas modrig, aber das störte ihn nicht. Tukan, der Besitzer seiner Lieblingsherberge, hatte sich mindestens zehn Mal bei ihm für das armselige Zimmer entschuldigt. Obwohl Josuan wiederholt erklärt hatte, dass ihn die Art der Unterbringung überhaupt nicht interessiere. Er hatte nur schlafen wollen und das Bett war so bequem, wie er es sich nur wünschen konnte.
Außerdem schätzte Josuan Tukan und nahm ihm nicht übel, was der Wirt ohnehin nicht ändern konnte. Die alljährlichen Pferderennen wurden in Kranstadt abgehalten und er war unangekündigt und zudem spät in der Nacht aufgetaucht. Dankbar ließ er sich von seinem Freund nach oben führen, denn überhaupt das Dachbodenzimmer zu bekommen, stellte einen Glücksfall da. Wobei Tukan zur Not sicher sein eigenes Bett hergegeben oder gar einen anderen Gast aus den Federn geholt hätte. Aber soweit hatte Josuan es nicht kommen lassen.
Seufzend wälzte er sich herum: Musste er ausgerechnet heute diesen Traum haben? Die Erfahrung lehrte ihn, dass an Schlafen jetzt nicht mehr zu denken war, weil er zu aufgewühlt war. Er stand auf und trat an das Fenster, was im Grunde nur ein Loch in der Wand war. Im Winter wurde es sicher verhängt, aber in den ersten lauen Frühlingsnächten hatte Tukan es offen gelassen.
Draußen sah er schemenhaft die angrenzenden Häuser. Die kleine Stadt lag friedlich und dunkel da. Beim Einschlafen waren deutlich die Gesänge und lautstarken Gespräche der Feiernden zu hören gewesen, aber er war zu der Zeit zu müde, als sich davon stören zu lassen.
Erst der Traum hatte ihn geweckt und spukte ihm nun durch den Kopf. Noch einmal sah er deutlich die zehn Leute und den Drachen vor sich. Es waren immer dieselben Gesichter. Er hatte den Eindruck, sie zu kennen, obwohl er keinen von ihnen je zuvor gesehen hatte. Es waren ein Fakir, ein Dieb, ein Pescator, eine Linguali, eine Nachtelbin, ein Krieger, ein Dragoner, ein Assassine, ein Magier, eine Stammeskämpferin und der Drache. Warum er diese Dinge von den Versammelten wusste, konnte er nicht sagen, doch er hatte keinen Zweifel daran.
Bevor er das erste Mal diesen Traum gehabt hatte, ahnte er nichts von der Existenz der Pescatoren. Geschichten über sie hatte er gehört, aber er hatte sie nie für echt gehalten. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass sie mit Meerestieren kommunizieren konnten und verschiedene besondere Merkmale hatten, wie beispielsweise Kiemen zum Atmen und einen Wasserstrahl, der aus Öffnungen an ihren Händen hervorschießen konnte – allerdings nur unter Wasser.
Von den Assassinen hatte er immer angenommen, dass sie während der großen Schlacht bei den Ebenen von Damas vernichtet worden waren, genauso wie fast alle Magier und Seher. Von ihnen existierten nur noch Mythen. Dennoch sagte ihm seine Intuition, dass die Leute aus seinem Traum real waren und irgendwo lebten. Warum er so sicher war, konnte Josuan selbst nicht bestimmen. Aber diese Gewissheit und dass er keinen Zweifel daran hatte, dass sie sich alle bei der Pyramidenstadt Sendari treffen würden, ließen den Traum nur noch unheimlicher erscheinen.
Josuan fröstelte. Wenn er zurück ins Bett ginge, dann würden ihn die Traumbilder nicht zur Ruhe kommen lassen. Deshalb fiel ihm die Entscheidung leicht und entschlossen zog er sich an.
Fertig ausgerüstet trat er wenig später aus der Dachkammer. Er kletterte lautlos die Leiter hinunter und durchquerte einen dunklen Flur, an dessen Ende eine Treppe in den Gastraum führte. Dieser wurde spärlich durch ein ausgehendes Kaminfeuer erleuchtet. Er kramte einen Zettel aus seinem Beutel und schrieb eine kurze Nachricht. Etwas Geld hatte er im Zimmer liegen lassen. Tukan würde sicher der Erste auf den Beinen sein und die Notiz finden.
Der Stall lag verlassen da und wurde bei Josuans Eintreten nur dürftig von einer Laterne beleuchtet. Der prägnante Pferdegeruch ließ ihn an sein Zuhause denken. Er pfiff kurz und schon hörte er Troll in seiner Box stampfen. War der Hengst etwa munter? Lächelnd trat Josuan zu ihm, während er liebevoll über seine Nüstern strich. Leise sagte er: „Komm, mein Freund. Was hält uns hier, wenn wir beide wach sind?" Troll nickte daraufhin ungestüm mit dem Kopf. Er sattelte das Pferd und führte es hinaus. Ein kurzer Blick genügte ihm, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Dann stieg er auf.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.