Semio der Dieb - Kapitel 3.2

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Nachdem der Tierhüter den geheimen Treffpunkt und Tsato verlassen hatte, wandte er sich Richtung Schlossbibliothek

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Nachdem der Tierhüter den geheimen Treffpunkt und Tsato verlassen hatte, wandte er sich Richtung Schlossbibliothek. Wahrscheinlich war Nassia genau dort, zu finden. Das war ihre Welt – keiner der sie störte, und pures Wissen. Er fragte sich, ob man dort etwas von Bedeutung lernte, was man nicht draußen in der Realwelt erfuhr? Wenig später betrat er vorsichtig die Bibliothek durch einen Geheimgang. Er sah sich um. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen.

Über alle Wände reichten kunstvoll verzierte Bücherregale, welche mit Kristallen geschmückt waren, die meterhohe Säle erhellten. Man erreichte die höher gelagerten Bücher mit Hilfe von Leitern und daran befestigten Plattformen, die man an den Regalen entlang schob. Die Bücherwände ragten weit in den Raum und es gab Stockwerke, die in den Ecken durch Wendeltreppen miteinander verbunden waren. In der Mitte der Räumlichkeiten gab es einen großen Lichtschacht, der die Etagen verband. Von oben sah man bequem in alle vier Geschosse, denn das Loch im Zentrum wuchs mit jedem darunterliegenden Stock. Überall an der Brüstung des Schachtes standen Tische und Stühle. Es roch hier so intensiv nach Staub und altem Papier, dass Semio immer nieste, wenn er die Räume betrat. Die Bibliothek wurde deshalb im ganzen Schloss seit Generationen die „Niesbibliothek" genannt.

Er schritt zum Lichtschacht, um einen besseren Überblick zu bekommen. Als er nach unten schaute, sah er das Wappen der Kataniades auf dem Fußboden. Es war ein riesiger blauer Mosaiklöwe, der auf dem weißen Sand der Wüste stand.

Der Gong zur dritten Stunde war entfernt zu hören. Sonst blieb es still. Unversehens nieste jemand in der Nähe. Überrascht fuhr er herum. In einem Gang lehnte die Gesuchte betont lässig gegen ein Regal und sah ihn fragend an. Er streckte ihr die Hand auffordernd entgegen. Sie nahm sie und folgte ihm lautlos zurück in die Geheimgänge. Dort drehte sich Semio zu ihr und flüsterte leise: „Nassia, ich habe Neuigkeiten. Wir werden die Gefangenen befreien." Sie wirkte nicht sonderlich überrascht und fragte: „Wisst ihr schon, was sie hier machen?"

Semio schüttelte den Kopf, dann räusperte er sich und posaunte die Nachricht heraus: „Kannst du heute Abend mit in die Oase kommen? Auch du wirst mit ihnen fliehen." Nassia sah ihn zunächst verständnislos und schließlich ungläubig an. Nach kurzer Zeit keimte, wie erwartet, Hoffnung in ihrem Blick auf. Semio war deswegen beunruhigt, aber wie konnte er ihr das verübeln? Aufgeregt flüsterte sie: „Bist du sicher? Das kann ich ja gar nicht glauben. Warum tut Tsato das?"

„Ich kann dir leider überhaupt nichts weiter sagen. Tsato hat gesagt, dass man es dir dort erklären wird", erwiderte Semio ehrlich. Nassia wandte sich ab und wanderte rastlos hin und her. Er war sich sicher, dass sie den Entwicklungen nicht traute.

Er versuchte sie von ihren finsteren Gedanken abzulenken und erklärte: „Versuch so früh wie möglich zum Trompetenmann zu kommen und heimlich zu packen. Am Trompetenmann wird dich jemand erwarten. Tsau tak wird er sagen und du musst ihm folgen. Wenn irgendetwas passiert, dann versuche auf eigene Faust bis zur ersten Stunde in die Oase zu kommen." Resigniert zuckte sie mit den Schultern. „Und was ist mit dir?", fragte sie vorsichtig. Tsato hatte nichts dazu gesagt – nur dass er und die anderen Hauptleute später ihre Instruktionen bekamen. Bis jetzt hatte er nicht einmal daran gedacht, von hier wegzugehen.

„Schaffst du das?", erkundigte er sich, ohne auf die Frage einzugehen. Nassia nickte.

„Dann bis später! Ich muss los." Er lächelte ihr aufmunternd zu und lief zurück in das unterirdische Versteck der Eingeweihten. Er war der Vorletzte. Schweigend warteten sie auf das Eintreffen Tsatos. Semios Nerven waren zum Reißen gespannt. Was würde geschehen? Er war fassungslos darüber, dass ihr Anführer Nassia fortschickte. Semio hasste diese Ungewissheit: Nach allem, was er für die Rebellen getan hatte, wurde ihm immer noch nicht jedes Detail mitgeteilt. Vertrauten sie nicht darauf, dass er seine Klappe hielt? Zudem verabscheute er Ateras überhebliche Art und seine Sticheleien, wenn er mehr wusste wie Semio.

Als Tsato auftauchte, erklärte er ihnen kurz angebunden, dass sie alle die Gefangenen begleiteten. Die ganze Gruppe war überrascht. Der Tierhüter wirkte wütend auf seinen Anführer, da er ihn nicht vorher gewarnt hatte. Außerdem hatte er noch mehr Aspekte zu bedenken, denn er unterstützte die Familie seiner Tante Ziina. Würde sie sich über Wasser halten können? Er liebte sein Leben und seinen Beruf, da ihm die damit verbundene Freiheit wichtig war. Darüber hinaus sah er keinen Sinn darin, dass Tsato alle seine Hauptleute mitschickte. Würde nicht die ganze Struktur der Eingeweihten in Zinoka bröckeln? Es gab zwar eine weitere Gruppe von Hauptmännern, aber waren sie so leicht zu ersetzen? Semio bezweifelte das.

Tonyar war es, die ihn beschwichtigte und beruhigte. Wie vermochte sie nur so ergeben alles hinter sich lassen? Aber sie war so. Zurückgezogen lebte sie in ihrer eigenen Welt und schien die Anderen um sich, kaum einmal zu bemerken.

Semio sah Tonyar an. Er liebte Geheimnisse und diese Frau war voller Mysterien. Sie war eine Formwandlerin. Hinter ihren eisblauen Augen erkannte man nie, was in ihr vorging. Allerdings ließ sie ihn nur selten überhaupt so nah an sich ran. Schließlich führte sie das Leben einer angesehenen Frau. Jedoch war sie zu ihm gekommen, als sie einmal in Not war und seitdem trafen sie sich hin und wieder heimlich. Zwischen ihnen war ein zartes Band der Freundschaft entstanden und er wünschte sich, es zu festigen, selbst wenn es verboten war, dass Rebellen sich privat trafen. Wer würde erklären können, dass ein Schreiberling sich mit dem Tierhüter abgab?

Eine unsichtbare Anziehung strömte von ihr aus und er war fest entschlossen, mehr über sie zu erfahren. Deshalb versuchte er, jede Aufgabe bei den Eingeweihten zu bekommen, nur um ihr zu begegnen. Ein paarmal hatte er sie in einem aus ihrer Sicht unbeobachteten Moment gesehen. Zum Beispiel hatte er sie von einer Empore mit Blick auf den Schreiberlingsaal zufällig entdeckt, als sie sich zwischen all ihren Schreiberlingkollegen konzentriert über ihre Arbeit gebeugt hatte und an ihrer Feder gekaut hatte. Damals hatte sie entspannt gewirkt. Normalerweise wirkte jede ihrer Antworten überlegt und sie schien, jederzeit bereit zur Flucht zu sein.

Nassia war ganz anders. Sprechen gehörte zwar nicht zu ihrem Repertoire, aber sie sagte mit ihrer Art mehr als Tonyar mit Worten. Er sah die Formwandlerin inzwischen öfter wie die Thronfolgerin und gestand sich ehrlicherweise ein, dass es nicht nur seine Neugier für Geheimnisse war, die ihn zu ihr trieb. Deswegen hatte er Nassia gegenüber ein schlechtes Gewissen. Aber die Thronerbin beschwerte sich nicht darüber – wusste sie doch, dass seine Arbeit vorging.

Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt