Die Drachin setzte sich oben auf den Schnee und ließ ihren Blick schweifen. Inzwischen war der Tag angebrochen. Keiner schien sich in Reichweite aufzuhalten und ihre Drachenaugen waren besser als die eines Falken. Sie hätte sogar gesehen, wenn jemand in den Büschen lauern würde. Nichts und niemand konnte sich vor ihr verbergen. Überhaupt, ihre ganzen Sinne waren geschärft. Das hatte sie sich gar nicht so vorgestellt. Sie war begeistert. Sie schaute auf ihren Körper, der kupferfarben im ersten Sonnenlicht schimmerte.
Sie hörte Semio erleichtert ausatmen, als sie die beiden vorsichtig absetzte. Der Tierhüter hielt ihr wortlos, ihre Kleidung vor die Nase. Tonyar wollte sich zurückverwandeln, doch nichts geschah. Sie hüpfte, drehte sich um ihre eigene Achse, schloss fest die Augen, aber dennoch wurde sie kein Mensch.
„Tonyar? Was ist jetzt schon wieder los. Ich bin dir echt dankbar, dass wir hier raus sind und deine Gestalt ist wirklich auch schön. Doch könntest du dich jetzt bitte wieder zurück verwandeln? Ich hab hier auch deine Sachen", kommentierte Semio ungeduldig.
Tonyar sah auf den Tierhüter und schüttelte ihren gewaltigen Kopf.
„Warum denn nicht? Es wäre wirklich klüger, wenn dich keiner so sieht", seufzte Semio.
Bestürzt schaute sie sich wieder um, aber da war niemand. Die zwei Männer sahen sich ratlos an.
„Du willst doch jetzt nicht wirklich sagen, dass du dich nicht zurück verwandeln kannst?", wollte Semio drohend wissen.
Sie sah ihn an und brummte etwas.
„DAS DARF DOCH WOHL NICHT WAHR SEIN! Ich hatte dir doch gesagt, lass es. Aber nein, auf mich hört ja niemand. Was machen wir jetzt verdammt noch mal?", schrie er atemlos. Er schimpfte und schimpfte, seine Stimme überschlug sich vor lauter Zorn. Sie war hilflos und sackte in sich zusammen, wobei der Schnee ungestüm zu allen Seiten stob.
Für einen Moment endete die Tirade und Massua bemerkte: „Schau sie dir doch mal an: ein Häufchen Elend. Dein Geschrei bringt jetzt auch nichts mehr. Sei froh, dass wir da raus sind." Der Nachtelb seufzte. „Wir zwei reiten jetzt am besten zurück und erklären, dass ihr zwei euch furchtbar gestritten habt und Tonyar weggelaufen ist. Im Augenblick können wir nichts für dich tun. Versuch es weiter, Tonyar. Wir treffen uns später, wenn es dunkel wird. Kannst du uns bis dahin unauffällig folgen, wir werden Richtung Osten reiten. Ich muss jetzt wirklich meine Wunde versorgen." Sein Gesicht war furchtbar schmerzverzerrt und sie nickte stumm.
Der Drache sah die beiden mit großen Augen hinterher. Sie kroch zurück in die Höhle. Immerhin hatte sie ein perfektes Versteck.
Niedergeschlagen sah sie immer wieder nach, ob die anderen weiterreisten. Aber es dauerte fast bis zum Mittag, ehe die Gruppe aufbrach. Zuerst stieg ein Trupp auf den Berg um die Vermissten – Nassia und Josuan – ein letztes Mal zu suchen. Doch der kleine Verbund kehrte unverrichteter Dinge zurück. Auch Tonyar jagte als Drache noch einmal durch das Gebiet und versuchte mit ihren neuen Sinnen etwas über die zwei herauszufinden, aber sie gab sich schließlich geschlagen. Die Region war zu groß und weitläufig. Als die Gruppe sich auf den Weg machte, war Tonyar im Zwiespalt, ob sie weiter suchen sollte. Sie verstand die Notwendigkeit, der anderen weiterzureisen. Aber sie selbst hatte nicht vor so leicht aufzugeben.
Sie kehrte zu ihrem Ausgangspunkt zurück, wo die Gnomlinge sie in die Freiheit entlassen hatten. Dort suchte sie die Stelle, an der sie Nassia und Josuan zum letzten Mal gesehen hatte. Auf dem Berg war alles vom Schnee der Lawine bedeckt und die Spuren der anderen waren fast überall zu finden. Die zwei Gesuchten hatten sich vor der Schneelawine zu den Pferden begeben, aber niemand hatte sie dort angetroffen. Deshalb waren sie wohl auf dem Weg dorthin verloren gegangen. Tonyar flitzte den kurzen Weg entlang. Sie kam an einer uneinsichtigen Stelle vorbei, die zwar von einer Schneedecke überspült war, aber sie vermutete, dass man vor der Lawine dort hinunterspringen konnte. Ansonsten gab es bis zum Pferdelager keine Möglichkeit, einen Abzweig zu nehmen. Vorsichtig setzte der Drache einen Fuß auf den Schnee und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Felsen ragten wie Klippen aus der weißen Decke, aber Tonyar hatte schnell alles abgesucht. Ihre feine Nase nahm keinen einzigen ungewöhnlichen Duft wahr.
Als sie sich abwandte, bemerkte sie einen andersartigen Fels am Rande des Gebiets. In ihrer menschlichen Gestalt wäre er ihr sicher nicht aufgefallen, aber als Drache erregten Kleinigkeiten ihre Aufmerksamkeit. Sie schlängelte sich hinüber und erkannte, dass die Form des Felsens absolut gleichförmig rund war. Damit konnte die Gesteinsformation keines natürlichen Ursprungs sein. Ihre scharfen Augen entdeckten einen geraden Riss im Gestein, der sich im Schnee verlor. Sofort fing sie an zu graben und legte ein verbarrikadiertes Steintor frei. Sie drückte dagegen, aber der Stein war keinen Fingerbreit zu bewegen. Nicht einmal mit all ihrer Kraft schaffte sie es. Frustriert spuckte sie einen Feuerschwall auf die Tür, doch das nützte genauso wenig. Sie versuchte verschiedene Dinge, um das Tor zu öffnen. So verstrich die Zeit. Als die Sonne immer höher stieg, wurde ihr klar, dass sie zurückkehren musste. Aber sie hatte Hoffnung, dass Nassia und Josuan der Lawine entkommen waren. Nur hatte sie keine Idee, wie sie das jemandem erzählen sollte.
Die Gruppe war inzwischen aufgebrochen und der Drache nahm die Fährte auf, um sie bald in einer kleinen Senke einzuholen.
Wenn Tonyar Hunger bekam, erschnupperte sie sich ein großes Tier und fraß sich satt. Selbst Wasser fand sie problemlos. Die anderen kamen kaum voran und sie fing sogar an, sich zu langweilen.
Renn – zwisch – Absprung zum Flug – plums auf den Boden – erneut! Dann mit Kraft über die Wurzeln schlängelnd, die Bäume hinauf, um die Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren. Im nächsten Moment blieb sie, wie angewurzelt zusammen gerollt liegen, um sich in sich gekehrt auf ihre ursprüngliche Form zu konzentrieren. Kein Bemühung führte jedoch zum erhofften Ergebnis. Daher folgte sie zunehmend frustrierter der Reisegruppe.
Endlich hielt die Gruppe und bezog ein Lager für die Nacht. Semio kam alleine in ihre Richtung und erklärte knapp: „Warte auf die bald einsetzende Dunkelheit. Dann komm mich treffen. Wir bringen dich dann auf den neusten Stand. Irgendwas seltsames geht da vor."
Er schaute sich um und bemerkte nicht weit entfernt eine Felsformation. „Dort ist eine Höhle", stellte er fest.
„Schlaumerker", dachte Tonyar.
„Da kannst du warten. Bis nachher", erklärte er und verschwand auch schon. Bestimmt um herauszubekommen, was im Lager vorging.
Genervt lief sie zur Höhle und spähte hinein. Sie schien für den Moment verlassen, selbst wenn die Waldtier-Düfte noch deutlich in der Luft hingen. Beherzt rollte sie sich in der Mitte ein, als plötzlich ein Wolf aus einem kleinen Loch geschossen kam und an ihr vorbei setzte. Gleichzeitig rauschte eine Gruppe Fledermäuse über sie hinweg. Ihr blieb fast das Herz stehen. Als ihr wieder eingefallen, dass sie in Drachenform sich wohl kaum vor einem Wolf fürchten musste, beruhigte sie sich langsam. Diese Verwandlung hatte also auch etwas Gutes.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.