In Sendari schritt er in die unterirdischen Gänge und passierte mehrere Assassinenposten, um ins Heiligtum, dem Krater, vorgelassen zu werden.
Er beeilte sich, um vor Mondola am Treffpunkt zu sein. Er würde sie nicht absichtlich warten lassen, das erachtete er als stillos. Dennoch war es schon kurz vor der dritten Stunde, als er endlich den Krater betrat. Der Assassinentreffpunkt war ein großer, geheimer Raum, direkt unter der Sendaripyramide gelegen. Nur Assassinen kannten diesen Ort und trafen sich an ihm, um sich auszutauschen, Aufträge entgegenzunehmen und zur alljährlichen Aufnahmezeremonie. Ansonsten kamen sie nur selten in großen Zahlen zusammen, aber in diesem Raum galten ihre Verschwiegenheitsgesetze und das Versammlungsverbot nicht.
Die Halle war für einen Assassinen fast prunkvoll. Früher einmal waren alle Gänge hier unten ausgeschmückt gewesen. Seine Gilde hatten jeden Schmuck außerhalb des Kraters weggebracht und ihrem Schatz zugeführt, aber die Verzierungen und Ausschmückungen innerhalb des Kuppelgewölbes, waren geblieben. Man rechtfertigte dies damit, die Vorbesitzer nicht entehren zu wollen. Suaso vermutete, dass doch ein gewisser Stolz auf diesen Ort, der so lange vor den Katas versteckt wurde, nicht unerheblich bei der Entscheidung gewesen war.
Beim Eintreten sah Suaso sofort Huniak und Dimkat und wollte auf sie zugehen, als er Mondola gewahrte. Sie stand neben einigen Büchern der Bibliothek, die so selten und bedeutend waren, dass sie im Herzstück der Assassinengilde lagerten.
Überrascht blieb er stehen. Er gab zu, dass er keinen Moment daran gezweifelt hatte, dass seine frühere Geliebte als letzte auftauchen würde. Aber schnell hatte er sich von der Überraschung erholt.
Süffisant lächelnd trat die Assassine ihm entgegen. Sie nach all der Zeit wieder zusehen, gab ihm ein Gefühl der Unsicherheit. Äußerlich hatte sie sich kaum verändert. Ihr langes, glattes schwarzes Haar, umrahmte ihr helles Gesicht und die blauen Augen perfekt.
„Suaso", grüßte sie leise.
„Mondola", erwiderte er in einer normalen Stimmlage. Das folgende Schweigen störte ihn nicht und er nickte Dimkat und Huniak zur Begrüßung zu. Sie hatte sich doch verändert, denn sie ließ sich nicht mehr so leicht in die Karten sehen. Früher hätte sie ihn angeklagt wegen ihres Spitzels, den er betäubt hatte. Dass sie hier war, zeigte ihm, dass sie keinen Moment gezweifelt hatte, wer sie hierher geordert hatte. Sie musste seine Nachricht, die drei neben dem Nixeneinstich, richtig gedeutet haben.
„Wir sind auf einer Mission und ich brauche den Fakir Tamin, den Bruder Naduks. Du kümmerst dich doch um ihn, habe ich gehört", kam er sofort zur Sache.
Mondola lächelte und fragte: „Das sagst du mir, nachdem du einen meiner Männer angegriffen hast und Naduk entführt hast?"
Suaso reagierte nicht auf ihren Einwand. „Kannst du mir zeigen, wo er ist? Ja oder nein. Ich habe nicht viel Zeit", erklärte er.
Mondolas blauen Augen wurden eng. „Tja, dann solltest du dir Zeit nehmen und mir alles erklären", forderte sie.
Ohne mit der Wimper zu zucken sah Suaso seiner früheren Geliebten in die Augen. „Du bist mir verpflichtet, Mondola. Wir sind eine Gilde, willst du uns spalten?", fragte er herausfordernd.Die Assassine zischte: „Was willst du damit sagen?"
„Du bist eine Bedrohung für die Gilde, es gibt Dokumente, die uns alle in Schwierigkeiten bringen können", erwiderte er. Aus dem Augenwinkel sah er eine ruckartige Bewegung von Dimkat, aber mit einer Handbewegung brachte er ihn zum Schweigen.
Suaso gab Mondola einen Moment die Entwicklung zu verdauen. Wahrscheinlich hätte sie niemals damit gerechnet, dass Naduk sie verraten würde. Endlich sah sie ihm in die Augen, der fragte nur: „Wo ist Tamin?"
„Wo ist das Dokument?", erwiderte sie zischend.
Er versprach: „Alles zu seiner Zeit."
„Dann komm", bot sie ihm an und der Assassine folgte. Mondola führte ihn, ohne Dimkat oder Huniak zu beachten, aus dem Krater und durch Gänge, Richtung Ostviertel. Suaso war sich sicher, dass sie ihm übel nahm, dass ausgerechnet er ihr Geheimnis aufgedeckt hatte. Als sie wieder an die Oberfläche traten, erkannte er, dass in diesem Viertel immer noch die betuchten Kaufleute lebten. Durch ihre Geschäfte hatte sie sich ebenfalls ein Haus hier geleistet. Ließ sie etwa dort Tamin versorgen? Ihr Gewissen setzte ihr doch stärker zu, als Naduk annahm.
Mondola bummelte mit ihm durch die dunklen Straßen auf ein spärlich erhelltes Haus zu. „Ich wollte das alles nicht. Tamin und ich haben uns damals so gestritten und ich war außer mir. Ich habe die Kontrolle verloren", wisperte sie und Suaso bemerkte, dass sie zitterte.
Der Assassine sah zu ihr hinüber, auch wenn er sie in der Dunkelheit kaum erkannte. „Ich bin es nicht, der dir verzeihen muss. Das bist du selber", erwiderte er gnadenlos.
Für eine Weile sagte keiner etwas, dann stieß Mondola die Tür zu ihrem Haus auf. Sie stieg die Treppe hinauf und führte ihn zu Tamin auf den Dachboden. Er wachte sofort auf, als er die Tür quietschen hörte. „Dola? Dola!", rief er voller Freude. Er sprang umständlich aus dem Bett und stellte sich dümmlich grinsend vor sie.
Es schien, als ob er auf Anweisungen wartete. „Zieh dich an und packe dein Zeug hier zusammen, dann geh mit Suaso. Du darfst mit zu Naduk", wies Mondola ihn an. Tamin nickte begeistert und suchte seine wenigen Sachen aus einem Schränkchen. Wie besessen rief er immer wieder: „Duk, duk, duk!" Als er fertig war, folgte er ihm ohne sich von seiner bisherigen Beschützerin zu verabschieden. Der Assassine blieb auf der Treppe stehen und sah hinauf zu ihr.
Sie stand im Türrahmen und hauchte: „Auf wiedersehen, Suaso." Dann trat sie in Tamins Zimmer.
„Auf wiedersehen", antwortete er flüsternd, obwohl er sicher war, dass Mondola ihn nicht mehr hörte.
„Wideseh", kicherte Tamin neben ihm und holte Suaso damit wieder in die Wirklichkeit zurück. „Komm, ich bring dich zu Naduk", rang sich der Assassine ab. Er würde zuerst Tamin bei seinem Bruder abliefern, bevor er sich weiter mit Mondola befasste.
Es dauerte den Rest der Nacht, um den ehemaligen Fakir aus der Stadt zu lotsen. Er ließ sich leicht ablenken und fand die gesamte Welt furchtbar faszinierend. Schließlich hatte er sein Leben in Mondolas Haus verbracht. Jedes Sandkorn, jeder Stock, jeder Stein wurde von ihm genauestens unter die Lupe genommen. Suaso hatte am Anfang den Fehler begangen ihn anzutreiben, hatte aber schnell gemerkt, dass Tamin nur mit Trotz und Wut reagierte. Er warf sich regelrecht auf den Boden und tobte schreiend, so dass einige Nachbarn vorsichtig aus ihren Fenstern lugten und die Leute aus einer vorbeifahrenden Kutsche ihn ungehalten anstarrten. Suaso nahm sich gezwungenermaßen Zeit.
Der war wie ein Kind und freute sich über winzige, kleine Dinge, die selbst dem Assassinen sonst entgangen wären. Er fand zum Beispiel Blumen an Stellen, wo Suaso sie nicht vermutet hätte. Er sah jede Bewegung und ergötzte sich an allen herum streunenden Katzen oder herrenlosen Hunden. Was ihn dabei besonders beeindruckte, war, dass Tamin Gefahren angemessen einschätzte. Er traute sich nur an Tiere, die ihm ein Näherkommen erlaubten, die anderen ließ er intuitiv links liegen.
Suaso beobachtete ihn fasziniert und hatte sogar Spaß an Tamins Art die Welt zu entdecken. Sein Lachen war ansteckend und seine Freude über seine neue Freiheit nicht zu übersehen. Dennoch war er froh, als sie endlich am späten Morgen das Lager erreichten. Erklärungen konnten warten, nicht nur er war zum Umfallen müde, auch Tamin stürzte sich seinem Bruder in die Arme und schlief ein paar Minuten danach schon selig am Feuer. Suaso blieb nur, einen kurzen, abgespeckten Bericht abzugeben, dann legte er sich hin und fiel in einen traumlosen Schlaf.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.