Josuan der Traumseher - Kapitel 1.5

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Der Burgherr stand wie versteinert da

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Der Burgherr stand wie versteinert da. Irgendwann erwachte er wieder aus seiner Starre, schloss die Nische und rannte mit dem Brief zurück ins Haus. Er setzte sich in die Bibliothek und legte die Nachricht vor sich. Lebte sein Vater etwa? Hatte er sie freiwillig verlassen? Der Umschlag sah nicht so aus, als wäre er vor langer Zeit geschrieben worden.

Josuan hatte zum ersten Mal wieder Hoffnung, dass er seinen Vater doch finden würde. Dennoch fürchtete er, das was in dem Brief stand. Warum hatte Kanju ihn so gut versteckt? Es war blanker Zufall, dass er ihn überhaupt gefunden hatte. Seufzend nahm er das Schriftstück aus dem Umschlag und fing an zu lesen.

Mein geliebter Sohn,

Eigentlich hättest du in der Nische „Das Buch der Umme" oder wie du es besser kennst: „Das blaue Buch" finden sollen. Es ist seit jeher Tradition, dass der Finder der Nische in die Geheimnisse unserer Familie eingeweiht wird. Deshalb hoffe ich, dass du das Rätsel nicht in meiner Abwesenheit lüftest. Aber die Dinge sind bekanntlich niemals einfach. Auch Dein Onkel Brukto oder Massua kennen alle Details, falls ich nicht zurückkehren kann... ich schweife ab.

Langsam ließ Josuan den Brief sinken. Sein Vater war also ohne ein Sterbenswörtchen aufgebrochen und Massua wusste etwas, was er ihm nicht verraten hatte. Fassungslos las er weiter.

Mir bleibt keine Zeit. Ich habe erkannt, dass ich mehr tun muss, als darauf zu warten, dass endlich jemand anfängt nach den elf Gefährten zu suchen. Das Buch der Umme handelt von elf Wesen, die sich gegen den Tyrannen stellen und scheitern. Aber es gibt die Hoffnung, dass es elf neue Gefährten wieder versuchen werden. Ich dachte immer, es seien nur Geschichten. Nun aber glaube ich, dass es die Elf wirklich wieder geben wird. Mein Vater behauptete das immer und ich hielt ihn für verrückt.

Der erste Schritt ist die Gefährten zu finden.

Ich bin ein Traumseher. Jemand der in seinen Träumen manchmal Dinge der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft sehen kann. Früher habe ich nie Bedeutendes geträumt, aber letzte Nacht war das anders. Ich habe die Elf in meinem Traum gesehen.

Dieser Traum verändert alles und ich begebe mich unverzüglich auf die Suche - auf meine Mission. Alleine – weil ich nicht weiß, wem ich trauen kann. Der Traum gab mir Hinweise, nach wem ich ausschauhalten muss und wohin ich meine Schritte richten werde. Die Antworten auf viele Fragen werden sich hoffentlich früher als später finden. Das Buch nehme ich mit, vielleicht entdecke ich darin weitere Hinweise.

Nun zu unserem Geheimnis: Wir – die Familie Tiguadade - sind die Anführer der Eingeweihten auf Fagadasien, mein Sohn! Ich ahne, dass das ein Schock für Dich ist. Frage Massua nach der ganzen Geschichte. Aber unser größtes Geheimnis ist ein anderes: Nicht die blauen Wüstenlöwen sind der Feind. Sie sind genauso Opfer wie wir alle, wobei ihnen wahrscheinlich noch die beste Rolle zufällt. Ein Schwarzmagier hält seit Generationen das Zepter in der Hand und befehligt die Katas.

Das Buch der Umme wurde von Denaja Kataniade geschrieben. Ihr Mann Tritatus hat damals versucht den Magier ohne Namen aufzuhalten und scheiterte kläglich. Seine und Denajas Kinder und Kindeskinder werden vom Namenlosen kontrolliert und führen für ihn eine Scheintyrannei. Ich weiß nicht, wie Denaja das Buch im Geheimen schreiben konnte, aber eine Ur-ur...- Ahnin von uns hat es zufällig in die Hände bekommen und seinen Wert erkannt. Der Mann unserer Ahnin ist damals vom Namenlosen brutal ermordet worden. Und seitdem führen wir – die Eingeweihten – eine, wie es scheint, aussichtslosen Fehde gegen einen Unsterblichen, den niemand kennt.

Mein Sohn! Ich hatte die Absicht dabei zu sein, wenn du zum Eingeweihten wirst. Nun übernimmt Massua die Eingliederung. Nimm Deinen Platz in unseren Reihen ein, der Dir seit Urzeiten zusteht. Sorge dafür, dass unter keinen Umständen der Namenlose erfährt, dass wir von ihm wissen. Es gibt überall Verräter, deshalb habe ich mich niemandem anvertraut.

Folge Deinem Herzen und du wirst Deinen Platz und Deine Bestimmung finden.

Dein Vater Kanju

Überwältigt versuchte Josuan seine Fassung wiederzuerlangen. Seit Jahren hatte er diesen Traum und vermochte ihn nicht zu deuten. Zwar war ihm die Besonderheit dieser Traumbilder bewusst gewesen, aber seinen Vater hätte er trotzdem nicht um Rat gebeten. Wenn er wach war, maß er den Bildern ohnehin kaum Bedeutung bei. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es Traumseher gab. Doch der Brief überzeugte ihn zusehends: er hatte die Elf ebenfalls schon im Traum gesehen. Josuan hatte zwar gedacht, es seien zehn Reisende, aber mit dem Drachen waren es elf. Falls er sich richtig erinnerte, gab es in dem „Buch der Umme" ein Kapitel über so ein mächtiges Flugtier.

Wo suchte sein Vater nach Spuren der Gefährten? In Josuans Traum waren die Elf eindeutig am Plateaublick bei Sendari, eine Stadt im Osten des weit entfernten Kontinents Aktunostra. Aber wurde Kanju überhaupt von den gleichen Traumbildern heimgesucht? Wenn Josuan seinem Traum folgte, würde er dann das verschollene Familienoberhaupt wiederfinden? Im Grunde hatte er jetzt mehr Fragen als zuvor. Er würde nicht drumherum kommen mit Massua zu reden, der ihm Vieles würde erklären müssen. Josuan stand ihren Ideen nicht ablehnend gegenüber, aber die Vorstellung einer von ihnen zu werden, war extrem.

Kurz überlegte er, in der gleichen Nacht aufzubrechen, da dachte er an seine Mutter und seine Schwester und verzog sich in sein Bett. Wer wusste schon, wann er wieder die Gelegenheit bekäme mit ihnen Zeit zu verbringen. Einen halben Tag Aufschub gönnte er sich noch.

Am Morgen schlenderte er zu seiner Mutter in den großen Saal, die gerade an einem Fenster stand, und draußen schmunzelnd Siana beobachte und verkündete: „Ich werde mich auf die Suche nach Vater machen."

Sie sah ihn traurig an und erwiderte gefasst: „Ich wusste, dass dich früher oder später nichts mehr hier hält, Josuan. Ich habe schon mit deinem Onkel darüber gesprochen. Er wird für eine Weile Hauji und Banira schicken, damit sie sich in Fengo um unsere Angelegenheiten kümmern können. Massua wird wohl mit dir gehen, wenn er hört, was du vorhast."

„Du hast gewusst, dass ich gehen würde? Warum hast du nichts gesagt?", wollte Josuan irritiert wissen.

„Weil ich nicht die Absicht hatte dich zu drängen. Dein Vater wäre schon längst wieder hier, wenn er könnte. Vielleicht braucht er Hilfe. Gleichzeitig habe ich Angst um dich", erwiderte sie. Daraufhin hörte er seine Mutter zum ersten Mal in seinem Leben fluchen: „Mist! Mist! Mist!" Sie krallte sich an der Stuhllehne fest, an der sie stand. „Wenn dein Vater doch nur nicht so geheimniskrämerisch wäre! Dann hätte er uns vielleicht irgendeinen Hinweis gegeben. Aber er lässt uns einfach in dieser verworrenen Situation zurück, ohne ein Wort zu sagen. Typisch!" Schimpfend trat sie an ein nahes Fenster. Josuan ließ sie gewähren und wartete, bis sie ihre Fassung teilweise wieder erlangt hatte.

Nach einer Weile seufzte sie: „Ich wünsche dir alles Gute, mein Sohn. Ich lasse Filana für dich packen. Geh nur hinaus zu deiner Schwester und nutze die wenige Zeit, die ihr noch habt." Aufgebracht stürmte sie davon. Nachdenklich schaute Josuan ihr nach. Er hatte bisher nie erlebt, dass sie offen seinen Vater kritisierte.

Irgendwann gab er sich einen Ruck und suchte Siana, die schon im Hof ungeduldig auf ihn wartete. Sie ritten gemeinsam aus und verbrachten ein paar lustige Stunden, die nur so dahin rannten. Am späten Nachmittag reiste er ab, ohne zu wissen, wann er seine Angehörigen das nächste Mal sehen würde. Wenn er seinen Vater nur wiederfände, dann würde sicher das Glück und die Unbeschwertheit zu ihnen zurückkommen.

Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt