Die nächsten Tage bemühte sie sich, den Anschein zu erwecken, als sei nichts geschehen. Die Formwandlerin verrichtete ihre Arbeit, während der Aufseher sie ignorierte und nicht einmal in ihre Richtung schaute. Heimlich fing sie an, Semio gelegentlich zu besuchen und sich mit ihm über Belanglosigkeiten auszutauschen, außerdem umgab sie sich gerne mit seinem Geruch. Die Treffen bereicherten ihren Alltag, auch wenn sie niemals ihre Arbeit für die Eingeweihten ansprachen und sie beließ es dabei.
Eines Morgens, sie war gerade beschwingt auf dem Weg in die Schreiberling-Halle, hörte sie aufgeregte Stimmen. Als sie kurz darauf Baniras mit einem ihr unbekannten Mann in einer kleinen Vorhalle beim Tuscheln überraschte, blieb sie unbehaglich stehen. Der Fremde war eine Mischung aus einem Zwerg und einem Gnom – was eher ungewöhnlich war. Selbst wenn beide Rassen bevorzugt in den Bergen lebten, hielten sie sich voneinander fern. Zudem hatte er einen hervorstechenden Buckel und ein Bein war kürzer als das andere. Der Mann bemerkte sie und nickte ihr zu. Dann verabschiedete er sich hastig von Baniras mit den Worten: „Ach, sei nicht so ein Feigling. Wir sehen uns heute Abend beim Stammtisch." Die Äußerung war leise gewesen, aber doch absichtlich so laut, dass Tonyar sie deutlich hörte.
„Bis später, Riktu", zischte der Aufseher. Das hätte sie wiederum nicht aufschnappen sollen, jedoch inzwischen war ihre Aufmerksamkeit geweckt und sie hatte ihren Gehör- und Geruchssinn verstärkt. Der ihr unbekannte Zwergengnom humpelte schnell in die andere Richtung davon, sie nahm nur eine feine Note von Verschlagenheit wahr. Baniras nickte ihr zu und begrüßte er sie übertrieben freundlich: „Guten Morgen, Tonyar. Kommst du?" Ohne die pure Verzweiflung vom letzten Mal roch er wieder nur langweilig, nach Resignation vielleicht.
„Morgen", erwiderte sie knapp. Das war das erste Mal, dass er sie überhaupt ansprach. Sie folgte ihm in die große Schreiberling-Halle. Dort waren die meisten bereits anwesend und sie huschte schnell an ihren Platz. Baniras sah kurz über die Arbeitenden und stellte sich dann an sein Pult. Tonyar beobachtete ihn. Er wirkte nervös und ließ seinen Blick immer wieder durch den Raum schweifen.
Schließlich waren alle da und der Aufseher zog sich augenblicklich in den Sesselraum zurück. Sein Verhalten war ungewöhnlich, normalerweise verließ er sie erst später.
Sie entschied der Sache auf den Grund zu gehen und bummelte hinüber zum Abtritt, wo die Schreiberlinge ihre Notdurft verrichteten. Sie verschloss die Tür, zog sich rasch aus und legte ihre Kleidung hinter einen Stein. Als alles in seinen Ursprungszustand zurückversetzt war - sie schob sogar die Türverriegelung zurück - verwandelte sie sich in eine Fliege.
In Baniras Raum war sie seit dem Vorfall nicht mehr gewesen. Sie flog hinüber und sah sofort, dass der Sesselraum leer war. Obwohl sie nicht gehört hatte, dass der Sauger das Zimmer verlassen hatte. Wohin war er verschwunden? Sie sah sich um, dann entdeckte sie eine kleine angelehnte Tür. Geschlossen hätte sie die Öffnung gar nicht bemerkt, weil sie sich perfekt in ihre Umgebung einfügte.
Kurzentschlossen flog sie durch die Geheimtür, welche in einen dunklen Gang führte. Schnell verwandelte sie sich in eine Fledermaus. Der Abschnitt war leer und endete ohne Vorwarnung. Sie fand die Tür, machte sich klein, und zwängte sich durch die Ritzen. Das Unterfangen dauerte allerdings eine Weile. Als sie letztlich auf der anderen Seite war, sah sie Baniras, wie er neben einer Säule kauerte. Er wartete darauf, dass einige Leute weitergingen, die sich über irgendwelche Gefangenen unterhielten.
Endlich zog die Gruppe weiter und der Aufseher setzte sich sofort in Bewegung. Tonyar folgte ihm. Er sah sich immer wieder gehetzt um, aber er bemerkte sie nicht. An einer unscheinbaren Mauerritze bückte er sich und schob etwas hinein. Dann lief er schnellen Schrittes zurück. Sie schaute ihm nach. Sollte sie ebenfalls zurückgehen? Sie würde einfach behaupten, dass sie ein Buch über die Wüste in der Bibliothek gesucht hätte. Denn seit einigen Tagen kümmerte sie sich um die Abschrift eines furchtbar langweiligen, aber schwer zu entziffernden Dokumentes über die Vorteile der Wüste.
Dann sah sie sich um und bemerkte, dass sich schon jemand näherte. Es war Suaso, der Hauptmann der Eingeweihten war. Er hatte dunkelblonde kurze Haare, eine stämmige und kräftige Statur und war gleichzeitig wendig bis hin zu akrobatisch. Tonyar hatte nie gesehen, dass er lachte. Er behandelte alle gleich distanziert und ließ niemals jemanden in sein Inneres sehen.
Sie wartete ab und sah, wie Suaso das Schriftstück herauszog. Er hatte einen Federkiel und einen Zettel dabei und schrieb den Brief flink ab. Zum Schluss schob er das Schreiben zurück und wandte sich rasch ab.
Sie folgte ihm, auch wenn sie kurz abwägte, welche Optionen sie hatte. Wer wusste schon, wie lange sie hier warten musste, bis jemand anderes auftauchte. Sie hatte nicht ewig Zeit und Suaso war ein genauso treffliches Ziel wie etwaige Alternativen.
Der Hauptmann führte sie in eines der Dienstbotenzimmer im Schloss, das er zu bewohnen schien. Wie er das ergattert hatte, war Tonyar ein Rätsel. Denn Zimmer im Türmchenschloss waren heiß begehrt. Sie wusste nicht einmal, was für eine Stellung Suaso offiziell innehatte, aber bei so einem Raum musste er eine wichtige Rolle in Risotatus Regierung spielen.
In seinem Zimmer angekommen, legte er den Zettel sofort auf seinen Tisch und fing an, ihn zu entschlüsseln. Tonyar wartete geduldig und beobachtete jeden Schritt. Bei ihm nahm sie geruchlich kaum etwas wahr, was sie immer wieder zutiefst erstaunte. Es schien, als würde nicht einmal sein Körper seine Gefühlsregungen verraten. Schließlich war er fertig und Tonyar flog näher, um mitlesen zu können.
Herr, es geht etwas vor. Aufseher Trochians Auftauchen ist seltsam, denn Fanai hat ihn zu sich gerufen. Könnte sie etwas mit ihm geplant haben? Außerdem sind da Fremde, die gefangene Eingeweihte mitgebracht haben. Darunter ein angesehener Adliger aus Fagadasien: Josuan Tiguadade. Die Fremden nennen sich Huti und Naraso, sie sind im Bunker untergebracht worden. Die Gefangenen sind unten im Kerker eingesperrt. B.
Tonyar verstand fast nichts von dem, was dort stand. Sie sah zu Suaso, von dem zuerst keine Reaktion zu sehen war. Dann landete seine flache Handfläche auf dem Tisch und er murmelte leise und gefasst: „Unglücklich!" Verdattert beobachtete sie ihn, so viele Emotionen hatte sie bei ihm nie zuvor gesehen. Sogar gerochen hatte sie einen Hauch von Wut und dann wieder Neutralität. Aber konnte sie davon ausgehen, dass sie auf derselben Seite standen? Ihn schien die Gefangenschaft von den Eingeweihten zumindest zu verstimmen.
Sie flog zurück zu der Mauerritze, doch die Notiz war unglücklicherweise fort. Auf den ersten Blick erschien das ärgerlich, dennoch würde sie schon herausfinden, was hier vorging und wer der Empfänger der Nachricht war. Am Abtritt zog sie sich hastig an und kehrte zu ihrem Platz zurück.
Der Aufseher stand vorne und beäugte sie kritisch, sagte aber nichts. Tonyar beugte sich über ihre Schriften und versuchte, sich zu konzentrieren, auch wenn sie innerlich ziemlich aufgewühlt war. Gedanklich kombinierte sie die Puzzleteile, um sie miteinander in Einklang zu bringen. Waren Baniras und Riktu Verräter? Oder hatte der Sauger nur Tsato berichtet, was vorging? Warum hatte Suaso sich dann eingemischt? Im Grunde wurden durch die Notiz nur neue Fragen aufgeworfen, erkannte sie frustriert.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasíaDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.