Eilig rannte die Schreiberlingin den Gang entlang.
Sie war – zum ersten Mal überhaupt – zu spät und sie roch schon förmlich, den auf sie zukommenden Ärger. Sie bog in die große Halle ab und drückte sich an der Wand lang ihrem Platz entgegen. Vielleicht hatte Baniras nicht gemerkt, dass sie fehlte? Er stand mit dem Rücken zu ihnen an einem erhöhten Pult und blätterte in einer Schrift. Als sie ihren angestammten Sitzplatz fast erreicht hatte, verließ sie den Schutz der Wand und schlich langsamen Schrittes weiter. Sie ließ sich nieder, nahm ihren Federkiel zur Hand und begann die langweilige Abschrift zu kopieren, welche noch vom Vortag auf der Ablage aufgeschlagen lag. Nach kurzer Zeit beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie Baniras sich umdrehte und die Reihen von Schreiberlingen überprüfte. Als er sich wieder umwandte, sah sie sich vorsichtig um. Alle waren an ihren Plätzen. Sie hoffte, dass ihm ihr Fehlen gar nicht aufgefallen war. Denn der Aufseher hasste genau zwei Dinge: Unpünktlichkeit und Liederlichkeit. Wer nicht gleich morgens und spät abends an seinem Platz saß und ordentliche Arbeit ablieferte, der wurde bestraft. Baniras drohte bei Verstoßen gegen diese Regeln mit dem Ende der Karriere als Schreiberling im Schloss. Aber bis heute hatte Tonyar nie erlebt, dass seinen Worten Taten folgten. Trotzdem hatten alle Angst vor ihm. Wobei keiner im Saal ein Anfänger war und minderwertige Abschriften lieferte, doch selbst Kleinigkeiten reichten, um Baniras zu verärgern.
Ihr Arbeitsraum war der Hauptraum ihrer Zunft in Zinoka. Der Herrscher ließ Unmengen von Gesetzen, Hinweisen und Vorschriften kopieren, die im ganzen Land verschickt wurden. Hier saßen die schnellsten, sorgfältigsten und vertrauenswürdigsten Schreiber des Großreiches. Manchmal, wenn es brisante Texte zu vervielfältigen gab, war Diskretion gefragt. Niemand hier hatte ein ausuferndes Privatleben – hinter vorgehaltener Hand wurden sie die Langweiler genannt. Tonyar störte das nicht. Denn keiner ahnte, dass sie seit Jahren alle aufgeschnappten Informationen an die Eingeweihten weitergab.
Unvermittelt legte sich eine Hand auf ihre Schulter. „Kommst du heute Abend kurz vor Feierabend bitte zu mir in den Sesselraum?", murmelte der Baniras kaum hörbar hinter ihr. Sie hatte nicht einmal gehört, dass er zu ihr getreten war. Jetzt roch sie seine Präsenz umso deutlicher. Es gab niemanden, dessen Geruch sie mehr anödete.
Kurz nickte sie, dann war er wieder verschwunden. Auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, aber innerlich kochte sie. Vermutlich wartete er schon lange auf einen Fehltritt ihrerseits. Er liebte es, Leuten zu zeigen, dass ihr Platz ganz unten war. Sie würde seine Tiraden ertragen und dann an die Arbeit zurückkehren.
Sie quälte sich durch den Tag und zählte fast die Minuten bis zum Zeitpunkt ihres Gesprächs mit Baniras. Als der letzte Gong ertönte, der vor ihrer aller Feierabend läutete, stand sie auf und marschierte Richtung Sesselraum. Sie bemerkte wie einige ihrer Kollegen ihr verstohlene, mitfühlende Blicke nachwarfen. Den Grund dafür kannte sie nicht, aber sie befand sich im Begriff ihn herauszufinden. Dieser Raum war im Gegensatz zur großen Halle nicht mit Schreibpulten ausgestattet. Es gab zwar Baniras Schreibtisch, doch ansonsten standen in dem Zimmer Sessel und Sofas. Überquellenden Bücherregale, wie in den anderen Arbeitsräumen, fehlten komplett. Stoffbahnen hingen an tapezierten Wänden und spezielle Leuchtkristalle sorgten für ein angenehmeres Licht, als in den hell erleuchteten Lesesälen. Früher war das Zimmer für alle Schreiberlinge vorgesehen gewesen, aber Baniras Vorgänger hatten es schon lange für sich beansprucht. Es roch furchtbar muffig und am liebsten hätte sie sofort kehrt gemacht.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.