Er fand die Hausherrin im großen Saal, wo sie über Rechnungsbücher brütend am ausladenden Esstisch saß. Jemand hatte die Herrin sicher schon von seiner Ankunft unterrichtet. Als er den Raum betrat, schaute sie nicht einmal auf. Stattdessen hob sie nur die Hand, um anzuzeigen, dass sie gleich bei ihm sein würde. Er betrachtete sie und bemerkte, dass sie um Jahre gealtert schien. Dabei waren nur wenige Wochen vergangen, seitdem er sie gesehen hatte. Die Abwesenheit ihres Mannes belastete sie schwerer, als sie es zugab. Schließlich beendete sie ihre Arbeit und kam dann freudestrahlend auf ihn zu. Josuan nahm seine Mutter Tanala in den Arm und drückte sie schweigend.
„Komm, lass dich ansehen, mein Sohn", versuchte sie ihre Gefühle zu überspielen. „Lange warst du fort."
Er nickte. „Ja, es gibt viel zu tun. Du weißt selbst wie es ist." Er war froh, dass sie Lakonade unter ihre Fittiche genommen hatte, während er sich um die Angelegenheiten ihrer anderen Besitztümer kümmerte. Jemand musste es tun, wenn nicht Massua auch diese Aufgaben übernehmen sollte.
Nur selten kam er dabei nach Fengo, wo sein Nasikbruder residierte. Dieser betreute vor allem die Bergwerke, Wäschereien und andere Geschäfte, die sie rund um die Hauptstadt besaßen.
Sie lächelte und nickte. „Ja, Kanju brachte ebenfalls viel Zeit mit unseren Obliegenheiten fern von hier zu. Konntest du wenigstens deinen Bruder besuchen? Wie geht es Massua? Konnte er nicht mitkommen?" Der Nasik war seiner Mutter Ziehsohn. Seine Eltern hatten den früh Verwaisten und seine Schwester Narani aufgenommen und als ihre eigenen Kinder anerkannt. Der Vater der Geschwister war damals der Hofmeister auf Burg Lakonade gewesen und genau wie seine Frau an einer Krankheit gestorben, die nur Nasiks heimgesucht hatte. Massua und Narani hatten ebenfalls an der Seuche gelitten – sie hatten aber überlebt. Ihre blauen Körper waren überall mit Narben gezeichnet, selbst wenn sie heute fast vollständig verblasst waren.
Massua war einmal einer von Josuans engsten Freunden und Vertrauten gewesen, aber ihre unterschiedlichen Aufgaben innerhalb der Familie verhinderten, dass sie sich häufig trafen. Es herrschte – vorsichtig ausgedrückt – seit einigen Jahren eine gewisse Anspannung zwischen ihnen. Sein Vater hatte oft beanstandet, dass er sich nicht genug um die Geschäfte in Fengo kümmerte. Zudem hatte Josuan das Gefühl, dass Massua sich für etwas Besseres hielt, weil er die wichtigeren Aufgaben unter sich hatte.
Früher hatten sie die gleichen Einstellungen geteilt und über die Engstirnigkeit der Anderen gelacht. Fast niemand verstand, dass Josuan seinen Freund provokativ „Blaui" nannte. Massua hatte eine blaue Haut und schwarze Augen und Haare wie alle Nasiks. Warum sollte man die Dinge nicht beim Namen nennen? Ansonsten unterschied sein Bruder sich nicht von Menschen.
In diesem Moment räusperte Josuans Mutter sich und ihm fiel ein, dass sie immer noch auf eine Antwort wartete, wo sein Nasikbruder sei. Er erklärte: „Leider konnte Massua nicht mitkommen, aber er lässt dich herzlich grüßen."
Seine Mutter nickte freundlich, er hatte jedoch den Verdacht, dass sie am liebsten die ganze Familie immer um sich gehabt hätte, seitdem sein Vater so unerwartet verschwunden war.
Josuan erklärte mitfühlend: „Ach Mutter, wenn ich doch nur etwas tun könnte! Ich würde noch heute aufbrechen und Vater suchen. Aber ich habe nicht den Kleinsten Anhaltspunkt, wo ich anfangen sollte."
Tanala sah ihn wissend an und erwiderte: „Josuan, ich ahne, wie sehr dich das belastet. Wir schaffen das schon, hörst du?"
Sie redeten eine Weile über Belanglosigkeiten und er aß nebenbei Brot und Gemüsesuppe. Als er den Löffel weglegte, stürmte Sania herein und zerrte ihn nach draußen, um mit ihm endlich Ritter und Drache zu spielen. Er sah den etwas missbilligenden Blick seiner Mutter, die sich wünschte zuerst seine Einschätzung zu den Burgangelegenheiten zu hören. Aber er überging ihren Wunsch und folgte seiner kleinen Schwester.
Draußen kämpften sich Josuan und Sania über den gesamten Burghof, danach landeten sie lachend auf der Obstwiese und jagten sich um die Bäume. Am Ende fielen sie glücklich, aber erschöpft ins Gras und sie fragte unvermittelt: „Warum kommt Vater nicht zurück?"
Josuan schloss die Augen und meinte sanft: „Er wird zurückkommen, wenn er kann. Wir sind das wichtigste für ihn." Der große Bruder wartete kurz, dann fügte er schelmisch hinzu: „Aber bis dahin erzähle ich dir einfach alles, was mich an ihn erinnert. Wir sollten niemals die Hoffnung aufgebe!" Augenblicklich fing er an, von lustigen Anekdoten aus ihrer Kindheit zu berichten, die Sania sicher zum Teil schon gehört hatte. Sie kugelte sich vor Lachen über die Wiese, wobei sie nie außer Hörweite geriet. „Als du gerade groß genug warst, selbst zu essen, fing Vater an, dir die Essensstücke zu stibitzen. Du hast immer so darüber gelacht! Als aber Mutter das einmal versuchte, hast du geschrien, wie am Spieß. Ich kann bis heute nicht vergessen, wie geschockt ihr Blick war." Sania nickte begeistert und bestätigte kichernd: „Ich weiß, sie hat es nie wieder versucht." Josuan lächelte und fuhr fort: „Ein anderes Mal hat er versucht dein Kuscheltier, den alten Stoffhasen, auszutauschen. Mutter hatte angeordnet, ihn zu waschen. Niemand hat sich an dich heran getraut. Ersatzhasen hatte Vater wohl schon von einer seiner Reisen mitgebracht. Nachts wollte er dir einen unbemerkt unterjubeln, aber du hast es trotzdem bemerkt und ich glaube, du hast da sogar noch mehr gebrüllt und es hat niemand je wieder versucht dein Häschen anzufassen." Sania kringelte sich vor Lachen und Josuan wartete schmunzelnd. Etwas ernsthafter berichtete er ihr schließlich, was ihr Vater ihm als Kind immer vorgelesen hatte. Die Geschichte hatte sie sicher nie gehört.
„Abends, wenn es schon dunkel war und die Fensterläden besonders laut klapperten, kam er zu mir und brachte ein blaues Buch mit", erzählte er mysteriös.
„Bist du sicher, dass es blau war? Dann suche ich es nämlich bei nächster Gelegenheit", warf Sania spitzbübisch ein. Josuan lachte und bestätigte: „Ganz sicher. Die Geschichten werden in unserer Familie seit Generationen weitergegeben. Es geht um Diebe, Fürsten, Magier, Fakire, Drachen und ähnliche geheimnisvolle Wesen."
„Och bitte, Josuan. Wenn ich das Buch finde, dann liest du mir daraus vor. Einverstanden?", flehte sie. Der große Bruder lachte und nickte ergeben, als er ihr über ihren Wuschelkopf fuhr. An diesem Tag schafften sie es aber nicht mehr gemeinsam das Buch zu suchen und so fand sich Josuan nach dem Abendessen alleine in der großen Familienbibliothek ein, als Sania sich unter Protest ins Bett verabschieden musste.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.