Der Geruch von altem Pergament und Papier stieg ihm beim Betreten der Bibliothek sofort in die Nase. Als Kind hatte er den Ort gehasst, immerhin war es der Raum, in dem er und seine Geschwister mit allem möglichen Wissen gelangweilt worden waren. Ihre Lehrer hatten ihnen Mathematik, Rechtschreibung, Musik, Malen, Geschichte und Naturkunde beigebracht. Er hatte aber lieber aus dem Fenster geschaut und sich das Ende herbei geträumt.
Es war eine stürmische Nacht und die Fensterläden klapperten. Er hatte sich Kerzen und etwas Wein bringen lassen. Seit einer halben Ewigkeit suchte er jetzt schon nach dem richtigen Werk in den vielen Regalen, die im ganzen Raum verteilt waren. Bei den Kinderbüchern war es nicht und bei den Sagen und Märchen konnte er es ebenfalls nicht finden. „Wo kann es nur sein?", murmelte er.
Vorerst würde Josuan nicht aufgeben: er überlegte, wie das Buch ausgesehen hatte. Es war nicht nur blau gewesen, auf allen Seiten waren kleine Bilder mit Verzierungen, ebenso auf dem Buchrücken. Vorne hatte irgendein verschnörkelter Schriftzug gestanden. Aber Josuan konnte sich nicht mehr erinnern, wie dieser gelautet hatte, denn sein Vater hatte es immer nur ‚das blaue Buch' genannt.
„Filana!", rief er plötzlich und nur einige Augenblicke später öffnete die Dienstmagd die Tür.
„Ja, Herr?", fragte sie mit großen Augen.
„Kannst du bitte die Regale durchgehen und alle Bücher, die blau sind, herbringen. Am besten holst du auch noch Dastog dazu", bat Josuan. Filana sah ihn etwas irritiert an, drehte sich aber um und holte ihren Mann. Die beiden schritten die Regale ab und brachten ihm ihre Beute.
Josuan sah sich genau an, was sie ihm vorlegten. Es gab viele blaue Bücher, doch das Gesuchte war nicht dabei. Darunter waren Titel, wie „Die wahre Geschichte von Fagadasien", „Das Ende der Zaranier", „Igoton", „Lao Tasua", „Angeln", „Wassertiere", „Der König von Tsamusto" und sogar „Das blaue Buch". Das Letzte war aber leider ebenfalls nicht das Gewünschte, denn es stimmte nicht mit seiner Erinnerung daran überein. Josuan prüfte kritisch die Ausbeute, nickte Tilana und Dastog zu und meinte großzügig: „Danke ihr Zwei, das wäre dann für heute alles."
„Gute Nacht, Herr", antwortete Filana artig.
„Gute Nacht", sagte Dastog und drehte sich um.
Josuan sah den beiden nachdenklich nach. Er fragte sich, was seine Bediensteten von seinen Eigenheiten hielten. Manchmal hatte er ausgesprochen seltsame Wünsche.
Er blätterte in der spärlichen Ausbeute. „Das blaue Buch. Naja, ein Versuch kann nicht schaden", murmelte er vor sich hin. Wie er seinen Vater kannte, war es gar nicht allzu abwegig für ihn, einen Hinweis darin zu hinterlassen. Kanju Tiguadade liebte Rätsel und Heimlichkeiten. Schon als Josuan ein Junge war, hatte sein Vater ihm Aufgaben gestellt, die er zu lösen hatte. Manchmal schob er seinem Ältesten nur einen Zettel zu, auf dem so etwas stand wie: „Siehst du mich, dann seh ich dich. Verzück ich dich, verzückst du mich. Erschrickst du mich, erschreck ich dich. Schau genau hin, dann erkennst du mich."
Das war leicht: ein Spiegel. Klein Josuan rannte daraufhin zu allen Spiegeln im Haus und fand einen Zettel, der ihn zu einem anderen Ort lotste. So setzte sich das Spiel den ganzen Tag fort. Wenn er die Rätsel gelöst hatte, erwartete ihn immer eine Überraschung. Zum Beispiel das Holzschwert mit dem Sania jetzt spielte, ein Fernglas, eine Schatzkiste oder was sein Vater sich sonst für ihn ausdachte. Mit der Zeit wurden die Rätsel schwieriger. Josuan liebte die Aufgaben und selbst falls er mehrere Tage brauchte, gab er nie auf. Irgendwann fiel ihm die Lösung ein, auch wenn er zugegebenermaßen manchmal etwas Hilfe seiner Mutter in Anspruch nahm.
Selbst Massua hatte an diesen Spielen keinen Anteil, obwohl er sonst fast immer mit ihm zusammen war. Dafür ließ Kanju seinen Nasikbruder mit auf die Jagd gehen oder er begleitete ihn zu irgendwelchen Treffen, woran der Älteste seiner Söhne wiederum kein Interesse hatte.
Josuan nahm zögerlich ‚das blaue Buch' in die Hand und öffnete es. Darin waren jede Menge Bilder von blauen Dingen: das Meer, Augen, Blumen, Saphire, der Himmel, Vögel und Wappen. Selbst ein Nasik war abgebildet. Beim Durchblättern des Buches hielt er inne. Josuan war es nicht möglich, zu sagen, was die Eingebung auslöste, die ihn zögern ließ. Doch wenn es sich um Rätsel seines Vaters handelte, war es immer besser, auf seine Intuition zu hören. Daher sah er sich die Wappen genauer an.
Verständlicherweise war der blaue Wüstenlöwe, der zum Haus der Kataniades gehörte und damit zum derzeitigen Herrscher Risotatus, abgebildet. Das einzig andere Wappen war das einer Familie von der Insel Hatschau. Die Adelsfamilie Gesondades hatte einen blauen Pfau im Wappenbild. Für eine Weile betrachtete Josuan das Emblem eingehend. Irgendwo hatte er es schon einmal gesehen. Er durchforstete sein Gedächtnis und dann fiel es ihm ein: Sein Vater hatte damals die Gesondades von Hatschau als Freunde bezeichnet und ihm im Garten am Schrein etwas gezeigt.
Das war es! Er sprang auf, warf sich seinen Mantel über, packte sich einen Leuchtkristall und rannte in die Nacht hinaus. Er erinnerte sich, dass die Gesondades auf einem Relief an der Seite des antiken Gartenheiligtums abgebildet waren. Dort eingetroffen, erkannte er, dass um das Wappen Reiter angeordnet waren, die zusammen mit den Tiguadades in den Krieg zogen. Als er die Darstellung zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er seinen Vater überrascht gefragt, warum es Kämpfe geben sollte? Doch dieser hatte ihn sofort lachend beruhigt und ihm erklärt, dass das Relief schon sehr alt war und von den Zeiten der Rassenkriege zeugte.
Der Wind peitschte Josuan ins Gesicht, aber er merkte es fast nicht. Er drückte gegen die Abbildung und war kaum überrascht, als es sich bewegte. Das Wappen konnte man ungefähr zwei Handbreit eindrücken. Unterhalb des Bildes fand er eine Nische mit einem Brief. Er hatte mit dem Buch gerechnet. Enttäuscht nahm er die Nachricht und las auf dem Umschlag:
Für meinen Sohn Josuan.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasíaDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.