Als alles still blieb und endlich auch Nassia ruhig und gleichmäßig atmete, lief Suaso zu Ateras und Naduk, weckte sie und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Der Mann aus Sendari würde für ihn das Dokument, auf dem er Mondolas Geschichte aufgeschrieben hatte, holen. Er war erst verwirrt, folgte dann ohne Fragen zu stellen. Ateras hingegen war schon schwieriger, zu überzeugen, aber er brauchte jemand Verlässlichen, der ihn zurück zu den anderen brachte. Er traute Naduk zu, sich in die erstbeste Ecke in Sendari zu hocken und nie wieder aufzustehen. Der Nachtelb willigte ein, inzwischen schien er sich in seine neue Rolle einzufügen.
Suaso wanderte schweigend mit seinen zwei Gefährten den steilen Pfad in die Stadt hinunter. Er ließ Naduk das Dokument abholen. Es war bei einem Schmied, der den Ruf hatte, sich durch niemanden unter Druck setzen zu lassen. Selbst Suaso hatte schon von ihm gehört: Heron.
Sie erreichten den frei zugänglichen Hof. Dahinter stand die offene Werkstatt, deren gewaltiger Amboss und Feuer deutlich auszumachen waren. Das Wohnhaus lag etwas versetzt, aber der ohrenbetäubende Krach war sicher tagsüber nicht zu überhören. Ein Esel beklagte sich missmutig in einem kleinen Verschlag, als er sie bemerkte. Der Hund daneben öffnete müde ein Auge, schnüffelte und setzte sich dann wachsam hin, um zu beobachten, was weiter geschah.
Suaso bugsierte Naduk zum Haus, der zaghaft klopfte. Da wurde Ateras ungeduldig. Er murmelte: „Was für eine Schlafnase.", drängelte sich an dem Fakir vorbei und schlug kräftig gegen die Tür. Es dauerte etwas, bis man Gepolter und Fluchen von innen hörte. Jedoch werkelte schon bald darauf jemand an der Tür, die schließlich ruckartig zur Seite flog. Ateras und Naduk machten vor Schreck einen Satz rückwärts. „Was wollt ihr?", dröhnte der massige Mann giftig, offensichtlich war er der Schmied Heron. Da erkannte er den Fakir und fragte: „Und du? Mitten in der Nacht?"
Naduk begann zu stottern: „Ich, also er, naja eigentlich wir, möchten gerne das Dokument, das ich dir zur Aufbewahrung damals - vor so vielen Jahren - gegeben habe." Kritisch betrachtete der Mann ihn und dann seine Begleiter. An Suaso blieb er hängen. „Und bringst mir gleich einen von denen her", erwiderte er drohend. Er spuckte geräuschvoll auf den Boden.
„Du hast nichts zu befürchten", bemerkte Suaso.
„Schon klar, dass das nicht auf seinen Mist gewachsen ist", brummte der Schmied und deutete auf den Fakir. „Was ist mit seiner Sicherheit?", erkundigte er sich.
„Für die bürge ich, was diese Sache angeht", antwortete der Assassine.
Der breitschultrige, kräftige Mann brach in schallendes Gelächter aus: „Das will ich meinen, der Kerl überlebt da draußen keine fünf Minuten ohne Hilfe. Dafür würde wohl niemand bürgen, der ein bisschen Verstand im Kopf hat."
Naduk rümpfte empört die Nase, war aber viel zu eingeschüchtert, um etwas zu sagen. „Wartet hier", befahl Heron und verschwand im Haus. Es rumorte in der Küche, dann tauchte er wieder auf.
„Wenn du wirklich etwas verstecken willst, tu es in den Eselstall", bemerkte Suaso und nahm das Dokument entgegen. Er war mehr als erleichtert, dass das verräterische Schriftstück in sichere Hände ging. Denn dieses Schreiben gefährdete seine gesamte Gilde.
„Klar und du musst es ja wissen", erwiderte Heron sarkastisch.
„Fast alle Menschen, verstecken ihre Habseligkeiten in der Nähe. Je weiter weg, desto schwerer wird es einer, wie ich, haben", erläuterte Suaso und verneigte sich knapp zum Abschied. Ateras folgte wortlos und Naduk stammelte ein verzagtes: „Wied-Wiederseh- Wiedersehen."
Der Schmied sagte nichts und ob er die höfliche Geste erwiderte, interessierte Suaso nicht mehr.
„Was sollte das?", erkundigte sich Ateras.
Naduk stotterte als Antwort: „Die brisanten Inhalte hätte Heron bei einem unerklärlichen Tod von mir zu Portiak gebracht. Offiziell ein Rechtsprecher, aber ich weiß, dass er ein Häscher ist. Wäre unschön für..." An der Stelle unterbrach Suaso ihn mit nur einem Blick und Ateras erfuhr nie, was er hatte sagen wollen.
„Geht zum Lager", bemerkte der Assassine und verließ sie. Er selbst kehrte zu Mondolas Anwesen zurück, jedoch war seine frühere Geliebte ausgegangen. Er würde warten. Ihre Bediensteten ließen ihn in den Besucherraum. Er setzte sich und las schon eine Weile in einem Buch, als Mondola ins Zimmer trat.
„Hast du etwas für mich?", fragte sie ohne Umschweifen.
Er nickte und warf ihr das Dokument hin. Sie sah erleichtert aus.
„Ich brauche deine Hilfe", erklärte er als Nächstes.
Ihre Augen wurden zu Schlitzen und sie wollte wissen: „Wieso gehst du nicht zur Gilde?"
„Weil ich nicht möchte, dass jemand von ihr erfährt", meinte Suaso.
Sie nickte.
„Kannst du ein Schiff für mich besorgen? Mit einer vertrauenswürdigen Mannschaft, die nichts gegen den einen oder anderen Verfolgten hat? Und kannst du für mich herausfinden, wo die Familie Taguaneso residiert? Ich suche jemanden der sich Rano oder Remo nennt und bei ihnen wohnt."
„Ein Schiff?", fragte sie verblüfft. „Wann denn?"
„So schnell wie möglich", antwortete Suaso.
Mondola sah ihn mit großen Augen an, aber er bemerkte, wie es in ihr arbeitete und sie sich überlegte, mit wem sie reden würde. „Kannst du heute Abend wieder hier sein?", fragte sie.
Er nickte und stand auf. Er lief in die Gilde, um sich zumindest mit Huniak abzustimmen. Sein Mentor würde keine Fragen stellen. Gegen Abend kehrte er zu Mondola zurück. Sie erwartete ihn in ihrem Arbeitszimmer.
„Ich habe die Familie sehr einfach gefunden. Sie leben schon mehrere Jahre in einem Haus gleich hier im Viertel. Ich kann es dir zeigen, wenn du willst. Remo lebt auch dort. Allerdings gehen dort gerade merkwürdige Dinge vor, die dich vielleicht interessieren", erklärte sie und zog fragend die Augenbrauen hoch. Er wartete, bis sie fortfuhr. „Risotatus ist dort untergebracht", sagte sie triumphierend. Suaso war zwar überrascht, aber ließ sich keine Regung anmerken.
„Er hat die Familie bis auf Remo ausquartiert. Jeden Nachmittag geht sein Sohn spazieren. Er geht runter zum Hafen, seine Familie besucht er nicht. Ansonsten gibt es nicht viel Bewegung. Mehrere Gefangene werden in den oberen Stockwerken festgehalten, aber niemand konnte mir sagen, um wen es sich handelt."
Ohne Pause fuhr sie mit dem zweiten Punkt ihrer Aufgaben fort: „Ich habe ein Schiff gefunden. Der Kapitän ist ein rauer Geselle, aber sonst ist ihm seine Mannschaft treu ergeben. Der Kapitän wird alles tun, was du willst, wenn nur die Bezahlung stimmt, aber darum mach dir mal keine Gedanken. Die Mannschaft wird die Passagiere nicht weiter beachten. Wie gesagt, Hauptsache die Bezahlung stimmt", erklärte Mondola.
„Wann können wir los?", fragte Suaso.
„Noch heute, wenn du willst", erwiderte die Assassine lächelnd.
„Wir müssen Remo und die Gefangenen da rausholen. Dann können wir los", bemerkte Suaso.
„Hab ich mir gedacht. Ich habe einen Plan: sei einfach morgen Mittag mit ein paar Leuten am Totenwächterhäuschen. Wir holen sie da raus und entführen Remo. Dir ist schon klar, dass jemand will, dass du an Remo rankommst?", fragte sie beiläufig.
Suaso nickte knapp. Mondola schien nicht überrascht.
„Bis morgen dann", verabschiedete sich der Assassine. Seine frühere Geliebte sagte nichts. Sie würde ihm helfen zu fliehen, seine Schiffspassage bezahlen, die Gefangenen befreien und Remo entführen – nicht mehr.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.