Semios Augen wurden groß, als er Nassia gewahrte: „Und du? Solltest du nicht in der Oase sein, kleine Lady?"
Sie zeigte auf Tam. Beide sahen sie auf den Bären, der sich stolz plusterte. „Und jetzt?", fragte Semio. Der Steinbär zuckte die Schultern und ließ sich von Nassia hochheben. Er kuschelte sich an die Thronerbin, wobei er ihr tief in die Augen sah. Sie streichelte ihm über den Kopf und drückte einen weiteren, letzten Kuss auf seine Stirn, dann ließ Tam sich von ihr an Semio weiterreichen. Er umarmte ihn fest, bis er genug hatte und der Tierhüter ihn absetzen durfte. Zögerlich, aber ohne sich umzudrehen, schritt er davon.
Semio und sie sahen ihm eine Weile hinterher, selbst noch, als er schon gar nicht mehr zu sehen war. Nassia wischte sich verstohlen eine Träne weg, dann sah sie zu ihrem Freund. Der ließ sich nichts anmerken und sagte tapfer: „Komm mit." Kopfschüttelnd fragte sie sich, warum er nicht einmal zeigte, was er empfand?
„Doch mach bitte nichts Dummes!", wies er sie an. Seine herablassende Art ärgerte sie. Dennoch beschloss sie, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihm zu streiten. Zukünftig würde sie ihm das nicht mehr durchgehen lassen.
Erhobenem Hauptes tippte sie ihn an und fragte leise: „Wo sind die anderen? Gehen wir nicht zur Oase?" Semio sah sie genervt an und zischte: „Sei jetzt einfach still, Nassia." Fassungslos starrte sie ihn böse an – sie war immerzu stumm! Aber er beachtete sie gar nicht. Er lief grübelnd vor ihr auf und ab, während er Dinge sagte wie: „Könnte der Bunker im Bettlerviertel sein?", „Wie hieß noch einmal das Lokal?" und „Was könnte nur blaue Hilfe bedeuten?". Schließlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben. „Komm, folge mir", forderte er sie etwas friedfertiger auf. Warum dachte immer jeder, dass man sie nicht in Entscheidungen einbeziehen müsse? Dennoch folgte sie ihm.
Er führte sie durch die Gassen von Zinoka, bis er vor einem hellerleuchteten Turm stoppte. Schreckliche Musik schallte aus ihm hervor, Leute schwirrten innen an den Fenstern vorbei. Vermutlich tanzten sie. „Dort drüben siehst du das Lokal: ‚Zur grünen Palme'? Da muss ich rein. Ich weiß nur, dass dort blaue Hilfe wartet. Vielleicht wäre es besser, wenn ich alleine reingehe", erklärte Semio.
Erschrocken deutete Nassia auf die vielen Betrunkenen, die an ihnen vorbei schlenderten und sie voller Neugier beäugten. Er hatte doch nicht wirklich die Absicht, sie alleine hier draußen zu lassen?
„Tja, du bist nicht gerade hässlich", seufzte Semio und Nassia wurde rot. So etwas hatte er nie zuvor zu ihr gesagt. „Vielleicht gehst du zuerst rein und suchst dir eine ruhige Ecke. Ich komm dann gleich nach", riet er ihr.
Sie nickte und schlenderte zur Tür hinüber, die sie öffnete, während sie versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu wirken. Ihr schlug ein Geruch aus Schweiß, Alkohol, Tabak und Cannabis entgegen. Außerdem war die Taverne von einem konstanten Geräuschpegel erfüllt, der sich aus überschlagenden Stimmen, Lachen und schrägem Gesang, der von einem verstimmten Klavier und einer Violine begleitet wurden, zusammensetzte. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, aber vor der Taverne fühlte sie sich noch schlechter aufgehoben. In dem Lokal konnte sie wenigstens in der Menge untertauchen.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.