Die Formwandlerin war genervt. Sie warteten seit Stunden auf die Thronfolgerin. Nicht nur Semio schien deswegen nervös, auch einige andere fingen an, sich zu sorgen. Schon alleine der Geruch im Raum sprach Bände: die Besorgnis, Nervosität und Aufregung der Umstehenden mischte sich zu einem zähen Brei, der ihr unangenehm in die Nase stach. Tonyar fragte sich, wie lange man auf Nassia warten würde und wann Ateras die Geduld verlieren würde. Ein paar Mal schon waren hitzige Diskussionen zwischen ihm und Semio entbrannt, die zu ihrer Überraschung immer Josuan zu Nassias Gunsten beendet hatte. Die Formwandlerin hatte einige Blicke von dem adligen Eingeweihten und seinen Leuten bemerkt, die unmissverständlich bedeuteten, dass sie alle warten würden. Ateras gefiel es gar nicht, dass Josuan das Sagen hatte. Wohingegen Semio sichtlich frohlockte, dass sich der Nachtelb endlich jemandem unterordnete.
Schließlich war Nassia zur allgemeinen Erleichterung wieder aufgetaucht. Unbekümmert hatte sie unter ihnen gestanden und hatte Semio überschwänglich begrüßt. Gerne hätte Tonyar ihr das hübsche Köpfchen zurechtgerückt und sie darauf hingewiesen, wie angespannt alle wegen ihr waren. Aber wer war sie schon, um sich das herauszunehmen. Semio jedenfalls las der Prinzessin jeden Wunsch von den Augen ab.
Nach Nassias Auftauchen hatten sich alle wieder in Bewegung gesetzt und waren überstürzt aufgebrochen. Belustigt stellte Tonyar fest, dass die Art der Gnomlinge zu reisen und diese Ungewissheit im Dunkeln nicht nur ihr aufs Gemüt geschlagen hatte. Alle waren offensichtlich froh, ihre Gastgeber wieder zu verlassen.
Sie strömten ins Freie. Tonyar hätte sich am liebsten als Vogel in die Luft geschwungen und den Berg hinuntergestürzt. Ein richtiger Sturzflug weckte die Lebensgeister, aber diese Freiheit hatte sie leider nicht. Weiterhin genervt lief sie zwischen den anderen, die bereits erneut anfingen zu diskutieren. Dieses Mal verhandelten sie darüber, wohin sie ihre nächsten Schritte richten wollten. Tonyar beobachtete, wie Nassia sich absetzte, und wäre ihr am Liebsten gefolgt. Einfach mal wieder ihre Ruhe – da würde sie es sogar vorzugsweise mit der Thronfolgerin aufnehmen, als mit all diesen Verrückten. Aber es war Josuan, der ihr in die Quere kam. Er folgte Nassia, obwohl Semio beabsichtigte, ihn aufzuhalten. Der Tierhüter schaute ihm kritisch nach, beteiligte sich dann jedoch wieder an der Diskussion. Tonyar schmunzelte, denn es gab natürlich keine wichtige Entscheidung ohne ihn, wenn er es verhindern konnte. So diskutierten sie eine Weile und die Formwandlerin fing an sich zu langweilen und ließ ihren Blick sehnsüchtig hinauf in die Berge wandern. Unvermittelt bemerkte sie, wie der Schnee sich in Bewegung setzte.
„Schaut! Da oben!", rief Tonyar entsetzt. „Eine Lawine!"
Sie hörte, wie alle nacheinander ihrem Finger folgten und in Panik gerieten. Das totale Chaos brach aus. Jeder der Gruppe rannte kopflos davon und zuletzt stand sie sogar alleine mit der Karte da. Sie packte das gefaltete Pergament und eilte in die einzige Richtung, in die niemand gelaufen war. Kein Wunder, denn vor ihr lag ein Abgrund, den sie alle zuvor passiert hatten. Sie sah dem auf sie zurollenden Weiß entgegen. Über die Schulter blickend, sah sie, wie sich einige an die Seite einer Felswand gerettet hatten. Sie kletterten um den Berg herum, um die Lawine an sich vorbeiziehen zu lassen. Andere waren in die Richtung der Pferde gerannt. Tonyar nickte erleichtert, denn dort waren sie von riesigen Felsen geschützt.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasyDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.