Auf dem kürzesten Weg kehrte Tonyar nach dem Überfall des Saugers zu ihrer Wohnung zurück. Ihr kleines Zimmer lag in einem der oberen Stockwerke in einem der Türme von Zinoka. Diese weißen und schwarz-blauen hochgeschossen Stalagmiten, waren überall auf Aktunostra bekannt. Sie wirkten, wie aus dem Boden der riesigen Höhle gewachsen. Hier in der Hauptstadt waren sie nichts Besonderes und es gab nicht einmal genug von ihnen, denn der Wohnraum war knapp. Essen von außerhalb erlaubten sich nur die Reichen. Für die Anderen blieb Höhlenfraß, der aus Algen, Pilzen und Tieren, die in den vielen Gängen und Höhlen hausten, bestand. Aber zumindest war dieser Fraß billig und Wasser gab es aus verschiedenen Quellen ebenfalls in Hülle und Fülle. Ihr Gehalt reichte Tonyar knapp, weil sie niemanden mit durchfütterte. Manchmal empfand sie die Einsamkeit als unerträglich, ertrug ihr Schicksal dennoch, ohne zu klagen. Denn sie fürchtete Vergeltung für ihr gesamtes Umfeld, falls ihr Geheimnis gelüftet würde.
Als sie ihr Zimmer betrat, richtete sie sich wieder auf und schloss mit hoch erhobenem Haupt die Tür. Keiner beobachtete sie hier in ihrem kleinen Reich. Sie schlenderte sofort zu ihrem persönlichen Lieblingsausguck und setzte sich in ihren Grübelsessel. Sie hatte von hier oben einen ungestörten Blick auf die bunte Stadt und das schwarze Schloss. Wann immer sie Zeit zum Nachdenken brauchte, kam sie hierher.
Sie fragte sich, wie sie das Verhältnis mit Baniras fortsetzen sollte? Würde er ihr gegenüber etwas unternehmen? War es gefährlich, so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen? Sie beschloss, es kurzerhand herauszufinden. In Sekundenbruchteilen verwandelte sie sich in einen Vogel und flog dem Schloss entgegen. So konnte sie ihn zumindest für den Moment heimlich beobachten.
Unterwegs nahm sie die Gestalt eines Geckos, einer Fliege und einer Katze an und erreichte so unbemerkt die verlassenen Bereiche der Schreiberlinge. Bei Baniras Zimmer wandelte sie sich zuerst in eine kleine Maus, um unter der Tür hindurch zu schlüpfen und ließ sich im Anschluss, getarnt als Fliege, auf die schwarze Fassung eines Kristalles an der Decke nieder. Von dort bespitzelte sie den Sauger ungestört.
Aufgeregt schritt er auf und ab. „Was mach ich nur? Was mach ich nur?", murmelte er manchmal und blieb deprimiert stehen. Grübelnd verfolgte Tonyar Baniras Getaumel, der nicht müde wurde wie ein eingesperrtes Tier hin und her zu laufen. Sie roch Aufregung bei ihm, aber ebenso Angst und pure Verzweiflung. Die Zeit verstrich und Tonyar fragte sich, ob sie es riskieren konnte, ein wenig zu dösen, als Baniras unvermittelt zur Tür lief und einen Namen schrie: „Krasti!" Kurz darauf stand ein Junge im Raum und er herrschte das arme Kerlchen ungeduldig an: „Sag ihm, dass ich ihn sofort treffen muss." Der Bursche zog den Kopf ein und verschwand augenblicklich. Der Aufseher schnappte sich einen Umhang und lief durch einen Geheimgang hinaus. Die Fliege Tonyar folgte ihm. Der Geheimweg endete nach einigen Kreuzungen und Abzweigungen draußen im Schlosshof, wo Baniras sich seinen Überwurf überzog und die Kapuze weit ins Gesicht zog. Die Formwandlerin holte ihn ein und landete auf seiner Kleidung. Als sie die Mauer erreichten, öffnete der Sauger eine Tür und schlüpfte hinaus in die Stadt.
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Traumseher - 1. Teil der Traumtrilogie (1/3)
FantasíaDie Geschichte beginnt mit einem Traum. Der Traumseher Josuan begibt sich gemeinsam mit magischen Gefährten auf eine Reise, um die Welt zu verändern. Er folgt dem Ruf des Traumpriesters, der ihn in eine ungewisse Zukunft führt.