„Oje", seufzte Myrtha und schloss die Türen ihres Kleiderschranks. Nachdem sie das Mädchen in ihr Zimmer gebracht hatte, hatte sie sich schnell angezogen und sich auf die Suche nach etwas Passendem für Ari gemacht. Doch das gestaltete sich schwieriger als gedacht. Myrthas eigene Sachen waren der schlankeren und größeren Frau viel zu weit.
Zerknirscht sah sie Ari an, die auf einem Stuhl nahe dem Kamin saß. Myrtha musste Acht geben, dass sie sie nicht anstarrte. Sie hatte es erst für einen dummen Scherz ihres Enkels gehalten, aber als die Träumerin dann tatsächlich die Augen aufgeschlagen hatte...
Unfassbar. Es war ein Wunder. Noch nie war ein Träumer aufgewacht.
„Stimmt etwas nicht?", fragte Ari und riss Myrtha damit aus ihren Grübeleien. Sie musste wohl einige Augenblicke ins Leere gestarrt haben.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, alles in Ordnung." Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie eilte zu ihrem Bett.
Ihre Kniegelenke protestierten, doch sie kroch halb unter das Gestell und zog eine alte Truhe heraus. Staubflusen flogen in die Luft und Myrtha musste gegen den Drang zu niesen ankämpfen.
„Hoffentlich", murmelte sie vor sich hin und öffnete die Schnallen.
Zum Vorschein kamen in Seidenpapier eingeschlagene Kleidungsstücke – genau die, die sie gesucht hatte. Eilig nahm sie einige Bündel heraus und legte sie auf das Bett.
„Komm her Ari." Sie winkte die junge Frau neben sich, als sie ein dunkelblaues Kleid auf der Tagesdecke ausbreitete.
„Der Schnitt ist zwar hoffnungslos veraltet, aber wenigstens ist es in etwa deine Größe." Ihr war nicht entgangen, dass die junge Frau recht wacklig auf den Beinen war – was auch nicht anders zu erwarten war, da ihre Muskeln vom vielen Liegen verkümmert waren. Dennoch war es erstaunlich, wie gut sie laufen konnte.
Mich würde interessieren wie das sein kann, dachte sie, widmete sich aber schnell wieder der Gegenwart.
„Meinst du es passt dir?", fragte Myrtha nun und sah Ari aufmerksam an. Die Rothaarige strich über den weichen Stoff und betrachtete den spitzenverzierten Saum.
„Ich... weiß nicht."
„Naja, wir werden es einfach ausprobieren. Soll ich dir helfen?"
Ari warf ihr einen unsicheren Blick zu und nickte. Myrtha lächelte sie aufmunternd an. Sie konnte sich schon denken, warum die Frau ein so niedergeschlagenes Gesicht zog.
„Keine Sorge Kindchen, ich bring dir alles bei. Du bleibst doch wach, oder?"
Ihre Züge wurden entschlossener, als sie antwortete: „Ich will nicht mehr zurück."
Verwirrt runzelte Myrtha die Stirn. „Wohin zurück?"
„In die Träume", sagte Ari und blickte wieder auf das Kleid hinunter.
Myrtha war neugierig, doch sie wollte nicht bohren. Sie würde nur zu gern mehr Zeit mit der wachen Ari verbringen. Sie lächelte vor sich hin und legte eine Hand auf Aris Arm.
„Keine Sorgen, dir wird es hier im Haus gefallen. Und jetzt komm." Ari nickte und ließ sich bereitwillig von Myrtha beim Ankleiden helfen.
„Weißt du, das sind einige Kleider aus meiner Jugend. Bevor ich so ein Hutzelweib geworden bin, hatte ich beinah so eine Figur wie du." Myrtha seufzte melancholisch. „Aber keine Korsage der Welt könnte mich je wieder so schlank machen."
Als sie die letzte Verschnürung am Rücken geschlossen hatte, trat sie einige Schritte zurück. Sie würde wohl den Schneider kommen lassen müssen, doch fürs Erste war es gut genug. Der warme Stoff schmiegte sich an Aris zierlichen Körper und die dunkle Farbe ließ ihre Haut wie Porzellan aussehen. Der Kontrast zwischen Rot und Blau war sehr interessant und Myrtha lächelte anerkennend. Ihr Blick wanderte zu Aris Gesicht, aus dem sie zwei verunsicherte Augen ansahen.
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Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...