42 ~ Verbrauchte Energien

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Es war ein großes, schwarzes, endloses und leeres Nichts, in das Hanna blickte. Es war frustrierend, geradezu peinlich – so etwas war ihr bisher noch nie passiert. Sie hatte immer eine Vision empfangen, auch wenn sie nicht die gewünschten Informationen enthalten hatte. Aber nie war es nichts gewesen, nicht so wie jetzt.

Ihre Schläfen pochten und sie schloss erschöpft die Augen. Es war zehn Uhr morgens und sie fühlte sich, als wäre es Mitternacht. Seit zwei Stunden saß sie hier und versuchte erfolglos, eine Vision zu erhaschen. Sie ließ die Hand des jungen Träumers los und lehnte sich in dem Sessel zurück.

Das wird ein gefundenes Fressen für Lorlen, dachte sie zynisch und verzog die Lippen zu einem unglücklichen Lächeln.

Sie konnte ihn schon vor sich sehen, mit seinem perfekt sitzenden Hemd und den maßgeschneiderten Hosen, eine dunkle Augenbraue über den braunen Augen spöttisch erhoben. Er würde sich über sie lustig machen und sie verhöhnen. Hanna konnte seine Stimme schon hören, wie er sie mit ihren unzureichenden Fähigkeiten aufzog.

„Oh Gott", murmelte sie und schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war: Nicht zu wissen ob Ari Gefahr drohte oder zu wissen, dass Lorlen sie verspotten würde.

„Soweit kommt es nicht." Von neuem Ehrgeiz gepackt passte sie wieder nach den kühlen Fingern des Träumers und stahl sich etwas von der Magie in dessen Inneren.

Wie immer, wenn sie das tat, fühlte sie ganz am Rande ihres Bewusstseins eine weitere Person – Lorlen. Er musste wissen, dass sie hier saß und arbeitete.

Dummes Huhn, er selbst hat dich dazu angewiesen, dachte sie und war für einen Moment abgelenkt. Sein Befehlston hallte noch immer in ihren Ohren und machte sie wütend. Hätte sie sich nicht selbst Sorgen um Ari gemacht, hätte sie sich geweigert.

Aber es half nichts, wenn sie sich weiter deswegen aufregte. Ruhig und gleichmäßig atmete sie durch, so wie sie es gelernt hatte. Behutsam entnahm sie dem träumenden Emendi Magie und dachte an Ari. Es war ein Gefühl, das man nur schwer beschreiben konnte. Sie fühlte sich gleichzeitig von ihrem Körper losgelöst und doch vollkommen anwesend. Hanna öffnete ihr Bewusstsein dem Zeitfluss, beobachtete und wartete auf eine Vision.

~

Lorlen fühlte sich elend. Es war eine zermürbende Mischung aus Müdigkeit, Schwäche und dem Gefühl einer nahenden Grippe. Er musste zugeben, dass er nicht ganz gewusst hatte was auf ihn zukam, als er Hanna am Morgen gesagt hatte, sie solle in Aris Zukunft blicken. Sie war nun schon vor Stunden in dem Zimmer seines Träumers verschwunden und entwendete pausenlos Magie.

Diese aufgewendeten Energien spürte Lorlen und sein Körper verlangte nach Ersatz. Seine Köchin hatte ihn schon aus ihrem Domizil verbannt.

„Sir, Sie können nicht einfach die Vorratskammer plündern. Ich habe Ihnen doch schon hundert Mal gesagt, dass ich es gern vorher wissen würde, wenn Sie wieder eine dieser langen Sitzungen abhalten." Schließlich hatte sie versprochen, den Dienstjungen einkaufen zu schicken und Lorlen anschließen etwas Anständiges zu kochen.

Doch Lorlen hatte das Gefühl, bis Mittag innerlich zu verhungern, wenn Hanna in diesem Tempo weitermachte.

Sie muss eine Pause machen, dachte er entschlossen und verließ sein Arbeitszimmer – er konnte ohnehin keinen klaren Gedanken fassen. Je näher er dem Zimmer am Ende des Flurs kam, desto deutlicher fühlte er die Vibrationen der Magie. Wie kleine Wellen gingen sie von dem Raum aus und machten ihn darauf aufmerksam.

Sittsam klopfte Lorlen, obwohl er sich im Moment überhaupt nicht danach fühlte, seine Manieren zu zeigen. Er war übellaunig und hoffte fast, Hanna würde sich gleich mit ihm streiten. Eigentlich hatten sie das seit dem Tag ihrer Ankunft getan, sich gestritten. Wenn Lorlen so darüber nachdachte, wusste er eigentlich gar nicht warum.

Er wusste nur eins: Nichts was er tat oder sagte war der kleinen Prinzessin gut genug.

Mit Schwung öffnete er die Tür und blickte auf die zwei Personen im Raum. Sein Träumer lag wie immer teilnahmslos in seinem Bett, gefangen zwischen Leben und Tod. Mit seiner blassen Hautfarbe und dem hellen Haar verschmolz er fast mit dem hellen Bettzeug. Lorlens Blick wanderte weiter zu der Stelle, wo sich seine Hand mit Hannas schlanken Fingern verflocht.

Starr sie nicht an, tadelte ihn seine Moral, aber er hörte nicht darauf.

Sie sieht irgendwie... Lorlen kam nicht auf das Wort. Ihr schulterlanges Haar hatte sie zu einem festen Knoten im Nacken geschlungen, aus dem sich einige Strähnen befreit hatten, die ihr Gesicht einrahmten. Das dunkelgrüne Kleid betonte ihre zierliche Gestalt und ließ sie filigran und zerbrechlich wirken.

Sie sieht zerbrechlich aus, das ist es.

Und tatsächlich, sie sah müde und erschöpft aus, trotz der geraden Haltung, mit der sie in dem Sessel saß. Ihre blauen Augen waren unter den gesenkten Lidern kaum zu sehen.

Lorlen schüttelte den Kopf und zwang sich, um das Bett herum zu ihr zu gehen. Es nützte nichts, wenn sie hier weiter saß und ihrer beider Energien verschwendete. Er ahnte zu wissen, dass sie nichts herausgefunden hatte. Ein Gedanke kam ihm, der zugleich Stolz und Scham in ihm wachrief. Stolz, weil sie nicht so schnell aufgab und hartnäckig war. Tiefe Scham, weil sie nicht versagen wollte – wegen ihm. Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass sie lieber aus dem Fenster springen würde, als ihm gegenüber ihr Versagen einzugestehen.

Du elender Narr, beende diesen Unsinn!, herrschte ihn sein Gewissen an.

Lorlen wappnete sich, ehe er seine Hand auf ihre rechte Schulter legte.

„Hanna", sagte er ruhig und beobachtete ihre Reaktion. Ihre Augenlider flatterten, doch sie wachte nicht aus ihrer Trance auf. Sanft rüttelte Lorlen ihre Schulter und sagte nochmals ihren Namen – wieder nichts.

Geschickt kroch Lorlen in ihre Gedanken hinein und sagte dort: „Hanna, mach die Augen auf."

Ihre Reaktion kam sofort. Erschrocken zuckte sie zusammen, ließ seinen Träumer los und wandte ihren Kopf, um ihn anzusehen. Ihre Augen waren geweitet und er konnte sehen, dass er sie wirklich erschreckt hatte.

„Raus aus meinem Kopf", keuchte sie und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich – von alarmiert zu trotzig. Langsam zog er sich wieder aus ihrem Bewusstsein zurück. Erst jetzt schien sie seine Hand auf ihrer Schulter zu bemerken.

Einige Augenblicke starrte sie seine Finger lediglich an, als wüsste sie nicht was sie sagen sollte. Als sie ihn wieder ansah wusste Lorlen, dass er etwas ganz furchtbar falsch gemacht hatte.

„Es ist wie mit einer dreiköpfigen Katze, nicht wahr? Man kommt einfach dicht drum rum es anzufassen."

Verwirrt runzelte Lorlen die Stirn. „Ich verstehe nicht, was du damit meinst." Langsam zog er seine Hand zurück. Hanna lachte kurz und freudlos auf. Warum war diese junge Frau nur so zynisch?

„Die Brandnarben", sagte sie leise und sah zu dem schlafenden Jungen. „Ich wusste, dass du mich damit aufziehen würdest."

Lorlen hätte sich am liebsten die Haare gerauft. „Hanna, es..."

„Meinst du, ich hätte nicht schon alle Arten von Bemerkungen darüber gehört?" Mit wütendem Blick war sie aus dem Sessel gesprungen und starrte ihn an. „In Ordnung, es sieht aus wie geschmolzenes Wachs und nicht wie menschliche Haut. Glaub mir, ich habe es mir nicht so ausgesucht."

Einige Augenblicke konnte Lorlen nichts sagen, geschweige denn einen vernünftigen Gedanken fassen. Welches Detail hatte er übersehen, dass sie nun wieder so wütend machte? Er war gekommen um ihr Ruhe zu gönnen, er wollte sie von dem Erfolgsdruck befreien. Aber er war nicht einmal dazugekommen, ihr das zu sagen.

Geh einfach nicht darauf ein, ermahnte er sich und atmete ruhig ein und aus.

„Es ist mir egal, ob deine Schulter vernarbt ist. Es wäre mir sogar egal, wenn der Rest von dir genauso aussehen würde." Ehe sie den Mund öffnen konnte, wechselte er das Thema. „Lass es gut sein für heute. Du hast schon genug Energie verbraucht."

Ohne einen weiteren Blick auf sie zu werfen verließ Lorlen das Zimmer. Halb wünschte er sich, dass er Warren nichts von Hannas Wunsch zu bleiben gesagt hätte.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt