45 ~ Erster Ratsbesuch

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Unauffällig versteckte Ari ihre Hände in den Falten des Rocks. Sie hatte sich ein Kleid von Ilka leihen müssen, da ihre gesamte Garderobe auf eisige Temperaturen ausgelegt war. In diesem butterblumengelben Kleid musste sie nicht fürchten, an einem Hitzschlag zu sterben. Es war kurz vor zehn Uhr und sie wartete auf den Dienstboten, der sie zu den Ratsgebäuden bringen würde.

Obwohl es draußen angenehm warm war und kein Lüftchen wehte, hatte sie eine Gänsehaut. Selbst das fröhliche Geplapper ihres Bruders konnte sie nicht von ihren trüben Gedanken ablenken. Ilka war im Haus geblieben, während Silas ihr in den Vorhof gefolgt war. Die gesamte Fassade des vornehmen Hauses war von dichtem Efeu überwachsen und ließ es ein bisschen wie ein Hexenhaus aussehen.

„Mama hat mir gesagt, dass es ein Wunder ist, dass du wach bist", sagte Silas nun und blieb neben ihr stehen. Er sah sie mit ehrfürchtigem Blick an und sie musste unwillkürlich lächeln.

„Da hat sie Recht."

„Bist du wirklich die einzige?"

Ari atmete tief ein. „Ich fürchte ja. Aber Eriel findet sicher heraus, warum das passiert ist und dann können wir den andern auch helfen."

Unerwartet wurde Silas Gesicht ernst und Ari meinte, Trauer wie Wellen von ihm ausgehend zu spüren. „Als Papa noch gelebt hat haben er und Mama einmal gesagt, dass sie sehr traurig waren, dass du als Träumerin geboren wurdest."

Um ihn zu trösten strich Ari über sein Haar und lächelte. „Sie waren sicher froh, dass du wach warst."

Nun lächelte auch der Junge, wenn auch etwas schüchtern.

Ari konnte spüren, dass ihm sein Vater sehr fehlte. Natalia war so freundlich gewesen, ihr ein paar Informationen über ihre Familie zu geben. Ihr Vater war vor etwa fünf Jahren nach einer schweren Krankheit gestorben, seither lebten Ilka und Silas allein in dem Haus. Durch das Vermögen, das ihr Vater zuvor als Händler verdient hatte, hatten sie keine finanziellen Sorgen.

„Lady Dulciten?", ertönte eine höfliche Stimme und holte Ari zurück in die Gegenwart. Vor ihr stand ein kleiner Mann mit schmalen Schultern, gekleidet in einer schlichten grauen Uniform.

„Ja?"

„Sir Eriel schickt mich, Sie zu holen." Galant deutete er auf eine kleine Kutsche, die vor dem Hoftor stand.

Ari nickte und sagte zu Silas: „Ich wünsche euch einen schönen Tag." Der Junge winkte ihr hinterher, während sie mit dem Bediensteten davonging.

„Die Fahrt dauert nicht lange", versicherte der Mann und half Ari in die Kutsche. „Ich soll Ihnen von Lady Insidior Grüße ausrichten."

„Danke", erwiderte Ari und strich ihren Rock glatt. Kaum hatte sich der Bote neben den Kutscher gesetzt, setzte sich das Gefährt ruckelnd in Bewegung. Es fühlte sich so anders an, als mit einem Schlitten durch den Schnee zu gleiten.

Und Gregori ist nicht hier, dachte Ari wehmütig.

Schnell konzentrierte sie sich auf die Fassaden und Gebäude, die an ihr vorbeizogen. In der Nacht hatte sie gehofft, von ihm zu träumen. Es war eine irrsinnige Hoffnung gewesen, dass ihre Verbindung auch ohne Band über die Grenzen der Welten hinaus bestehen könnte. Aber die Wiese war leer gewesen, kein Mann in weißem Gewand hatte unter dem Baum auf sie gewartet.

Um sich abzulenken, nahm Ari die Umgebung genau in Augenschein. Alle Häuser, an denen sie vorbeifuhren, sahen sehr gepflegt aus und verströmten das Gefühl von Sicherheit. Als sie an dem großen Marktplatz vorbeifuhren, ehe sie die gewundene Straße zu den Ratsgebäuden erklommen, konnte Ari einen Blick auf einen riesigen Springbrunnen erhaschen.

Unerwartet ging ein Ruck durch die Luft und Ari legte sich erschrocken eine Hand auf die Brust. Eine eindeutig magische Druckwelle war über sie hinweggerollt, die ihren Ursprung ganz in ihrer Nähe hatte. Erst nach einigen Augenblicken sah sie, was passiert war: Der Kutscher half dem Pferdegespann mit Telekinese, das Gefährt die Steigung hinaufzuziehen. Was in der Menschenwelt wohl viel zu viel Energie gekostet hätte, ging den Emendi hier leicht von der Hand.

Aris Aufmerksamkeit wurde bald von der Kutsche abgelenkt, denn die Gebäude des Rats kamen immer näher. Die Fassaden in Ocker und Gelb getaucht, wirkten sie wie ein Juwel inmitten der ansonsten eintönigen Dächer. Je näher sie kamen, desto deutlicher fühlte Ari, dass dort Magie gewirkt wurde. Natalia hatte erwähnt, dass der Rat nicht nur die Geschicke der Emendi leitete, sondern auch etliche magische Aufgaben übernahm – wie das Wetter zum Beispiel.

Es dauerte nicht lange und sie hielten vor einem kleineren Gebäude.

„Wir sind da, Lady", sagte der Bote, stieg vom Kutschbock und half ihr aus der Kutsche. „Bitte folgen Sie mir."

Mit einem Lächeln drehte er sich um und führte Ari zu der dunklen Tür, die wie von Geisterhand aufschwang, als sie näherkam. Aus dem hohen Türrahmen trat Eriel und nickte dem Dienstboten zu.

„Guten Morgen, Lady Dulciten", grüßte er sie und deutete eine Verbeugung an. Irritiert bemerkte Ari wieder einmal, dass sein Haar das Licht förmlich schluckte. Die Sonnenstrahlen reflektierten darauf nicht, sondern wurden von den rabenschwarzen Strähnen scheinbar absorbiert. Ein Schauer lief durch ihren Körper, doch sie ließ sich nichts anmerken.

Stattdessen erwiderte sie seinen Gruß und ließ sich von ihm ins Haus führen. In den abgedunkelten Räumen fielen ihr sofort zwei Dinge auf: Einmal, dass es nach alten Büchern und Staub roch, wie in einem lange verlassenen Archiv. Das zweite waren die vielen Tische und Arbeitsflächen. Alle waren sie über und über mit Papieren, Büchern und seltsamen Gerätschaften überladen.

„Entschuldigen Sie meine Unordnung", hörte sie Eriel hinter sich sagen und drehte sich erschrocken um. Seine tiefe Stimme hatte regelrecht in ihrem Brustkorb vibriert. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich finde hier alles."

„Es stört mich nicht", versicherte Ari schnell und ging hinter ihm her zu einem Schreibtisch an der Wand.

Er bedeutete ihr, sich zu setzen und nahm selbst Platz. Konzentriert legte er seine Fingerspitzen aneinander und sah sie an.

„Es ist wirklich erstaunlich was mit Ihrem Verstand gesehen ist."

„Bitte?", entfuhr es Ari und sie schämte sich im selben Moment für diesen Ausrutscher. Es war nur so, dieser Mann... machte sie nervös. Er betrachtete sie wie ein seltenes Insekt, das er noch nicht in seiner Sammlung hatte.

Er ist Wissenschaftler, rief sie sich in Erinnerung und beruhigte ihre Gedanken. Natürlich war sie in seinen Augen eher ein Forschungsobjekt als ein lebendes Wesen.

„Nun, Lady Dulciten, wie Lady Insidior bereits in der Menschenwelt betont hatte, sind die Denkstrukturen von Träumern träge und grau. Ihre hingegen..." Ari fühlte eine deutliche Berührung an ihrem Geist. „Ihre sind das genaue Gegenteil. Es schein fast so, als wären sie nie eine Träumerin gewesen."

„Das ist doch erfreulich, oder nicht?", hakte sie nach.

Eriel lächelte dünn und nickte. „Vor allem ist es äußerst interessant. Ich bin schon sehr gespannt darauf, hinter ihr kleines Geheimnis zu kommen."

All die Zweifel, die bei diesem Satz auf sie einstürmten, beiseiteschiebend fragte Ari: „Was muss ich dafür tun?" Der Emendi ließ die Hände sinken und beugte sich ein Stück nach vorn, seine Augen glitzerten wie nasses Silber.

„Eigentlich gar nichts. Sie müssen lediglich ihre Schutzreflexe unterdrücken, während ich mich in Ihrem Kopf umsehe."

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt