38 ~ Ungewohnte Stille

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„Gregori..."

„Gregori."

„Gregori!"

Ungeduldig knuffte Myrtha ihren Enkel in die Seite und empfand eine gewisse Genugtuung, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Seit einer Minute versuchte sie ihn wach zu bekommen, doch er hatte geschlafen wie ein Toter. Nun blinzelte er sie verwirrt an und sah in seinen zerknitterten Sachen sehr verloren aus.

„Was ist passiert?", fragte er und setzte sich auf.

„Ich wollte dich noch einmal sehen, ehe ich wieder nach Hause gehe."

Mit fahrigen Händen strich sich Gregori sein zerzaustes Haar aus dem Gesicht und stieg aus dem Bett. „Wie spät ist es?"

„Halb sechs. Abends, falls du das auch vergessen haben solltest." Als ihr Enkel schwankend zu der kleinen Kommode mit dem Spiegel ging, wurde Myrtha wachsam.

„Gregori, was ist mit dir los?"

„Ich habe furchtbare Kopfschmerzen", antwortete er und wusch sich das Gesicht. Myrtha schüttelte den Kopf und trat neben ihn. Sie musterte seine Erscheinung im Spiegel und zog die Augenbrauen zusammen.

„Nein, das ist es nicht. Du fühlst dich... anders an." Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

„Wie – anders?", hakte Gregori nach und sah seine Großmutter an.

„Ich weiß es nicht genau. Anders eben."

„Du meinst, mental? Also in deinem Kopf fühlt es sich anders an?"

Myrtha dachte darüber nach und sagte: „Ja... könnte sein. Es ist aber eher ein Bauch- als ein Kopfgefühl." Gregori schwieg einige Augenblicke, als würde er angestrengt nachdenken.

„Ich glaube, deine Empfänglichkeit für Magie ist größer, als wir bisher angenommen haben. Es ist Aris Fehlen, das du bemerkst. Das Band zwischen mir und ihr ist durchtrennt worden."

Überrascht weitete Myrtha ihre Augen. „Wieso denn das?"

Gregori seufzte. „Lass uns das unten besprechen, ich muss etwas essen."

~

Es herrschte eine drückende Stille, die fast mit Händen zu greifen war. Obwohl sich Myrtha nicht leicht aus der Ruhe bringen ließ, wollte sie doch wie ein junges Mädchen auf dem Stuhl herumrutschen. Die drei anderen Personen im Raum machten denselben Eindruck. Langsam und gleichmäßig holte Myrtha Luft und brach das Schweigen.

„Mir ist unwohl bei dem Gedanken, dass Ari allein auf der anderen Seite des Diacre ist." Alle Augenpaare richteten sich auf sie, die Gesichter zeigten Zustimmung und Sorge. Myrthas Blick huschte zu ihrem Enkel. Er wirkte wie ein Schatten seiner Selbst, etwas blass um die Nase und müde.

„Ich hätte sie nicht begleiten können", sagte er erklärend und zuckte mit den Schultern. „Der Aufenthalt hätte für mich zu lang gedauert."

„Trotzdem, sie kennt dort doch niemanden."

„Was ist mit Aris Familie?", schaltete sich Hanna ein. Auch sie hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Myrtha würde sich später bei ihr entschuldigen, dass sie sie am Morgen in Verlegenheit gebracht hatte. Sie mochte das Mädchen.

Wirklich zu schade, dass sie nicht Lorlens Verlobte ist. Sie scheint eine aufgeweckte junge Frau zu sein, dachte sie.

Lorlen schüttelte den Kopf. „Sie hat gesagt, dass sie sich nicht an sie erinnert. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Familienbande sehr ausgeprägt waren. Träumer sind für die Emendi eine Belastung."

Gregori gab ein unwilliges Schnauben von sich. „Sie sind ja alle so perfekt", spottete er und starrte ins Kaminfeuer. „Sie werden Ari wie einen Frosch sezieren wollen."

Myrtha fasste sich an die Kehle. „Sie wollen sie doch nicht wirklich aufschneiden, oder?"

Gregoris Gesichtszüge wurden hart und Myrtha wäre unter seinem Blick zusammengezuckt, wüsste sie nicht um seine Zuneigung zu ihr. „Das sollen sie schön bleiben lassen."

Lorlen lenkte beschwichtigend ein: „Keine Angst Gregori. Die Emendi sind in mancher Hinsicht seltsam, aber grausam sind sie nicht. Außerdem ist Ari zu wertvoll, als dass sie sie einer solchen Behandlung unterziehen könnten."

„Mach dir nicht zu viele Gedanken Junge, das wird", sagte Myrtha und erhob sich aus ihrem Sessel. Die Sonne würde in nicht einmal einer Stunde untergegangen sein, sie sollte nach Hause gehen. Alle erhoben sich und begleiteten Myrtha in den Flur zur Haustür. Dort wartete bereits der Kutscher auf sie. Während Myrtha ihren Mantel anzog, nahm sie besorgt zur Kenntnis, dass Gregori sich unablässig die Schläfen massierte.

„Lorlen, willst du dich nicht mit Gregori daran machen, seinen Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten? Ich finde den Weg selbst hinaus."

„Komm gut nach Hause Myrtha", sagte Gregori und küsste sie auf die Wange.

„Ich werde schon nicht eingehen. Schließlich habe ich Ivina, die wird mir gern Gesellschaft leisten." Lorlen schüttelte ihr die Hand und wünschte ihr ebenfalls eine gute Heimreise. Die beiden Männer hatten sich schon umgedreht, als Myrtha Hanna ansah.

Schnell griff sie nach den Händen der jungen Frau und hinderte sie daran, ebenfalls zu verschwinden.

„Ich wollte mich noch für meine voreiligen Schlüsse von heute Morgen entschuldigen." Interessiert beobachtete sie, wie sich Hannas Wangen zartrosa färbten.

„Schon gut, es ist ja nichts passiert. Ich hatte es schon wieder vergessen."

Von wegen, dachte Myrtha, hielt die Worte jedoch zurück. Stattdessen lächelte sie und tätschelte die Finger der jüngeren.

„Passen Sie mir gut auf sich und die Männer auf."

„Versprochen", antwortete Hanna und lächelte. Myrtha stutzte. Während ihres Besuchs hatte die Nichte von Warren Filimet schön öfter gelächelt, doch erst jetzt erreichte es auch ihre Augen.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt