72 ~ Wie ein Tier

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Es ist ein Wunder, dass Tiere in Zoos und Zirkussen nicht nach wenigen Wochen sterben oder ausbrechen, dachte Ari und rüttelte zum hundertsten Mal an ihren Ketten.

Damit hatte sie genauso viel Erfolg wie die Male zuvor: gar keinen. Frustriert und entmutigt hatte sie bereits festgestellt, dass das Eisen gegen Magie und Telekinese immun war und Ari körperlich nicht im Mindesten in der Lage war, die Anker selbst aus dem Gestein zu ziehen.

Selbst ihr zweites Ich, die uralte Magie in ihrem Inneren, hatte ihr keinen Rat geben können. Gott sei Dank hatte sie davon abgesehen ihr vorzuhalten, dass sie entgegen ihrem Rat doch den falschen Personen vertraut hatte.

Aber wem nur?, fragte Ari sich selbst und schloss müde die Augen. Sie sehnte sich verzweifelt nach Sonnenschein, frischer Luft und vor allem nach einem ausgiebigen Bad. Sie fühlte sich schmutzig und sehr, sehr unruhig. Seit fast zwei Tagen schmachtete sie in diesem Kerker und hatte noch niemanden zu Gesicht bekommen.

„Ich werde wahnsinnig", wisperte sie leise und die Wände warfen den Hall ihrer Stimme zu ihr zurück. Ihrem durcheinander gebrachten Zeitgefühl nach musste es kurz vor dem Abend sein. Der spärliche Lichtschein, der durch die Decke fiel, färbte sich langsam Orange und zart Rot.

Das leise Aufschwingen einer nahen Tür ließ Ari aufhorchen und die sich nähernden Schritte beschleunigten ihren Herzschlag.

Endlich!, dachte sie und setzte sich auf. Wer auch immer gleich durch ihre Zellentür trat würde sie nicht auf dem Boden kauernd vorfinden wie eine verwahrloste Katze. Sie hatte ein gewisses Maß an Stolz und würde sich nicht noch selbst erniedrigen, indem sie ein Bild des Jammers abgab.

Sie hielt den Atem an, als ein Schlüssel umgedreht wurde, gefolgt von mehreren Riegeln und Kettenschlössern. Befriedigt dachte sie, dass ihre Entführer ihr wenigstens zugetraut hatten, die Fesseln zu lösen – auch wenn sie es nicht geschafft hatte.

Die nächsten Ereignisse spielten sich für Ari in bizarrer Zeitlupe ab. Millimeter für Millimeter öffnete sich die beschlagene Holztür und helles Licht drang durch den größer werdenden Spalt, ehe eine hochgewachsene Person im Türrahmen erschien. Ari musste mehrmals blinzeln, um ihre Augen an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen und um ihren Besucher erkennen zu können. Jedoch brauchte sie einige Herzschläge, ehe sie realisierte wer da vor ihr stand.

Annähernd zwei Meter groß, pechschwarze Haare, in denen sich keine Lichtreflexe zeigten, ausdruckslose Miene und Augen, die an angelaufenes Silber erinnerte. Augenblicklich fiel Ari ein Stein vom Herzen und sie lächelte schwach.

„Eriel, ich bin so froh Sie zu sehen. Es..." Doch ehe sie ihren Satz beenden konnte, durchschnitten eiskalte Klingen ihren Verstand. Sie keuchte, taumelte und sank schließlich auf die Knie. Schmerzen explodierten nach diesem Angriff in ihrem Kopf und ihr Körper zitterte unkontrolliert.

Gelassen, als hätte er ihr nicht beinah das Gehirn in Brei verwandelt, setzte er sich auf die Kante der Tür und ließ seine langen Beine herunterhängen. Er war vollkommen schwarz gekleidet und Ari hatte das trügerische Gefühl, ihn vor langer, langer Zeit schon einmal gesehen zu haben. Aber ihre vernebelten Gedanken hätten ihr sicher auch vorgegaukelt, einen rosaroten Elefanten gesehen zu haben, der mit einem Regenbogen seilsprang.

„Sie sind ein Phänomen, Lady Dulciten", sagte Eriel und seine tiefe Stimme erfüllte den gesamten Raum. „Es ist bisher noch keinem Träumer gelungen, zu erwachen."

Ari sagte nichts, der Schmerz in ihrem Körper nahm ihr die Fähigkeit zu sprechen. Doch Eriel schien das nicht zu interessieren, denn er redete weiter. „Ich muss sagen, dass ich sehr gespannt gewesen war herauszufinden, wie Sie das vollbracht haben."

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt