„Schneller, verdammt noch mal!"
Unbarmherzig drückte Lorlen seine Hacken in die Flanke des Pferdes, trieb es in halsbrecherischem Tempo durch die dunklen Gassen. Neben ihm saß Gregori auf einem Rappen, nicht minder schnell unterwegs, während Hanna wie ein kleines Bündel vor ihm auf dem Pferd saß. Sie war blass, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihre Hände zitterten, mit denen sie sich an seinem Hemd festhielt.
„Halt dich gut fest Hanna. Es hilf nicht, wenn du runterfällst."
„Ich weiß", blaffte sie und sagte auch an Gregori gewandt: „Wir müssen die nächste links."
Beide Männer nickten und rissen die Zügel herum, bogen auf die breite Straße ein, die zu dem Hügel der Ratsgebäude führte.
„Ich habe eine ganz böse Vorahnung", unkte Lorlen und folgte Gregori. Die Hufe schlitterten über den Pflasterstein und er war froh, dass das Pferd nicht ausrutschte, hinfiel und sich ein Bein brach.
Die gelben Fassaden der hoch aufragenden Bauwerke wirkten grau und fahl ihm Mondlicht, fast gespenstisch.
Moment!, schoss es Lorlen durch den Kopf und er horchte auf. Er fühlte ganz deutlich das Summen von angewandter Magie – und sie näherten sich dessen Quelle.
„Fühlt ihr das auch?"
„Ja", bestätigte Gregori.
„Es ist die Stelle, an der sich Ari befindet", fügte Hanna hinzu.
Augenblicke später zügelten sie die Pferde vor einem kleinen Gebäude, das sich an die imposanteren Ratshäuser schmiegte. Es sah unscheinbar und verlassen aus, doch das war es in keinem Fall. Gregori hob die bleiche Hanna vom Pferd und fasste sie um die Taille, damit sie nicht stolperte.
„Hier ist es", sagte sie leise und starrte auf die geschlossene Tür. Lorlen band die Tiere in der Nähe an und trat an die Seite der Hario.
„Es fühlt sich an, als wäre der Boden lebendig", sagte er und rieb sich über die Arme. „Hier ist mehr Magie im Einsatz, als ich je für möglich gehalten hatte."
„Wollen wir quatschen oder reingehen?", brummte Gregori. An Hanna gewandt sagte er: „Du kannst dich immer noch entscheiden, draußen zu bleiben."
„Nein", erwiderte sie entschieden – woraufhin Lorlen sie am liebsten dafür ordentlich geschüttelt hätte. Sie sah so unsagbar zerbrechlich aus, obwohl sie die Brauen trotzig zusammengezogen hatte. Irritiert bemerkte er den prüfenden Blick, den sie ihm aus dem Augenwinkel zuwarf, als würde sie seine Meinung abwarten. Ungehalten zuckte er mit den Schultern.
„Du steckst ohnehin bis zum Hals drin."
Damit war die Sache für ihn erledigt. Natürlich würde sie nicht im Freien bleiben, wo sie einigermaßen in Sicherheit war. Sie würde sich mit ihnen ins Getümmel stürzen und ihn damit um den Verstand bringen. Aber Gregori hatte Recht, sie konnten nicht länger hier herumstehen. Allein schon weil Lorlen fürchtete, dass Gregori ansonsten verrückt werden würde vor Sorge. Sein Freund sah blass und unruhig aus.
Ohne weitere Worte zu wechseln gingen sie auf die Tür zu, die in das kleine Haus führte und stellten erleichtert fest, dass sie nur angelehnt war.
Als wäre erst kürzlich jemand eingetreten, dachte Lorlen und ein eisiger Schauer rann seinen Rücken hinunter.
Es war wie in den schlechten Horrorgeschichten seiner Kindheit, wenn die Heldinnen und Helden immer ausgerechnet nachts in gruslige Höhlen oder unheimliche Wälder laufen mussten – selbstverständlich ohne Fackeln.
Im Inneren des Gebäudes gab es Gott sei Dank Licht, wenn auch nur eine kleine Öllampe auf einem riesigen Schreibtisch. Verwundert registrierte Lorlen, dass der komplette Raum mit Büchern, Manuskripten und Schriftrollen vollgepackt war.
Noch bevor er seine Vermutung aussprechen konnte, tat Gregori es für ihn. „Das ist Eriels Labor."
„Die Magie kommt aus dem Keller", sagte Hanna leise und deutete auf eine schmale Tür am anderen Ende des Zimmers.
Augenblicklich wünschte sich Lorlen, er hätte eine Flinte mitgenommen oder zumindest einen schweren Knüppel. Auch wäre er im Moment lieber ein Perveo gewesen, von denen sich einige hervorragend auf den Kampf mit telekinetischen Kräften spezialisiert hatten. Unwillkürlich schob er sich vor Hanna, als sie den Durchgang erreichten und Gregori voran in den düsteren Korridor ging.
„Sie ist hier", sagte er leise in ihren Köpfen.
Lorlen nickte im Geist, denn jetzt spürte er ihre Anwesenheit auch. Und er spürte ebenfalls, dass sich hier etwas Grausames und Schreckliches abspielte. Ein hoher Schrei, eindeutig von einer Frau, hallte ihnen aus den kühlen Tiefen entgegen. Schnell packte er Hannas Hand und begann hinter Gregori herzulaufen - sie mussten sich beeilen.
Die Luft wurde immer dicker und spannungsgeladener, je weiter sie die Stufen hinabeilten. Die gelegentlichen Lichter an den Wänden warfen bizarre Schatten, doch Lorlen nahm sie gar nicht wahr. Er war voll damit beschäftigt, Gregori auf den Fersen zu bleiben. Sein Atem klang in seinen eigenen Ohren harsch und sein Herz schlug wie verrückt in seiner Brust.
„Hinter der nächsten Ecke!", rief Gregori und blieb schlitternd vor einer offenen Tür stehen. Und als Lorlen neben ihm anhielt, konnte er seinen Augen nicht trauen.
~
Für einen Moment vergaß Gregori seine Sorgen und Ängste, die seine Seele peinigten. Das, was sich vor seinen Augen abspielte, war einfach unglaublich. Er musste sich an der Pforte zu einer anderen Welt befinden, denn die Szene vor ihm war zu irreal, um wirklich zu sein.
Er befand sich an der Schwelle zu einem mittelalterlichen Kerkerraum. Decke, Boden und Wände waren aus grauem Stein gemauert, die Stufe vom Gang hinunter in die Zelle war ungewöhnlich hoch. Aber das alles war nebensächlich, denn das wirklich grausige und zugleich faszinierende waren die beiden Personen, die sich in dem Raum gegenüberstanden. Kleine Blitze und Funken ließen die Luft glühen und waren der einzig sichtbare Beweis für das magische Duell, dass diese beiden sich lieferten.
Der Emendi Eriel stand mit dem Rücken zu ihnen, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und in verkrampfter Haltung. Ihm gegenüber stand Ari und Gregori meinte, dass sie noch nie so schön ausgesehen hatte. Das lange Haar lang wirr um ihren Körper, die blutroten Locken noch stärker als sonst gekräuselt. Ihre blassen Augen schienen Funken zu sprühen und aus jedem Millimeter ihrer zierlichen Gestalt sprach Stärke und Anmut – sie war wirklich eine Feuergöttin.
Jedoch das fleckige Kleid, der müde Zug um ihre Augen, die Ketten an ihren Handgelenken und vor allem das Blut in ihrem Gesicht rissen ihn schnell aus seiner Faszination. Im selben Moment, als er den Mund öffnen wollte um ihren Namen zu rufen, huschte ihr Blick zu ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde stand die Welt um ihn herum still.
„Gregori", wisperte sie leise und sah dabei so verloren und einsam aus.
Den unerwarteten Moment der Schwäche nutzend, versetzte Eriel ihr einen heftigen magischen Schlag und sie taumelte. Qual und Schmerz zeichnete sich auf ihrem blassen Gesicht ab.
„Nein!", entfuhr es Gregori und er verfolgte gebannt, wie sie träge in sich zusammensackte. Das erstickte Schluchzen von Hanna nahm er nicht wahr. Wut und Zorn ballten sich in ihm zusammen und er kannte nur noch einen Gedanken: Eriel musste sterben, jetzt.
Gregori war es egal, dass er den Eid seiner Zunft brach, als er gewaltsam in Eriels Geist eindrang und damit irreparable Schäden verursachte. Einst hatte er vor seinem Zunftmeister Warren geschworen, seine Gabe niemals gegen ein anderes Individuum einzusetzen. Doch das hier... nein, er würde niemals auch nur den leisesten Gewissensbiss haben. Dieser Mann musste dafür bezahlen, was er Ari angetan hatte.
Augenblicklich fuhr Eriel herum und starrte ihn mit irrem Blick an.
„Sie!", schrie er und trat einen Schritt auf ihn zu. Im selben Moment wurde Gregori von einer unsichtbaren Faust in den Magen getroffen und taumelte zurück.
„Um Sie erbärmliches Menschlein wollte ich mich eigentlich erst später kümmern, aber wenn Sie schon einmal hier sind..."
Drohend blieb er vor der offenen Kerkertür stehen und starrte ihn mordlüstern an.
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Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...