55 ~ Nächtlicher Besuch

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Unruhig wälzte sich Ari von einer Seite auf die andere, doch keine Position schien ihr bequem genug. Es war unerträglich warm im Zimmer und sie fragte sich, wie sie es in der Menschenwelt als Träumerin ausgehalten hatte. Hier konnte sie mit einer kleinen Handbewegung einen Windhauch erzeugen, der ihr kurzzeitig Linderung verschaffte. Den ganzen Tag über hatten sich ihre Mutter, Silas und die Angestellten des Hauses solcher kleiner Hilfsgriffe bedient so, dass es Ari nun überhaupt nicht mehr seltsam erschien.

Missmutig blies sie sich eine Locke aus der Stirn. Sie hatte ihr langes Haar zu einem festen Zopf geflochten und dennoch war ihr Nacken mit Schweiß bedeckt. Schmerzlich sehnte sie sich nach der bitteren Kälte, die in der Menschenwelt nun herrschte. Anziehen konnte sie so viele Schichten wie sie wollte, aber ausziehen...

Nein, sie weigerte sich standhaft ihr ohnehin dünnes Nachtgewand abzulegen.

Träge hing sie ihren Gedanken nach und versuchte nicht auf das Schlagen der großen Uhr zu hören, die am Hauptgebäude der Ratskammern angebracht war.

Fünf Uhr, dachte Ari und seufzte. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne aufging. Ein Frösteln durchlief sie, wenn sie an den bevorstehenden Tag dachte. Er würde sicher nicht so friedlich verlaufen wie der letzte. Sicher musste sie sich wieder Eriels Untersuchungen aussetzen.

Wieder musste sie gegen den Impuls ankämpfen, eine Verbindung zu Gregori aufzubauen. Sie wusste, was sie dazu tun musste, schließlich hatte sie es Gregori unzählige Male tun sehen – oder besser fühlen. Es wäre leicht, die nötigen Energien zu verknüpfen, aber Ari tat es nicht. Sie wusste nicht, ob es ihre Situation damit besser machen würde. Vielleicht würde sie sich noch mehr wünschen, endlich gehen zu können.

„Seid ihr ein Paar?", geisterte Hannas Frage durch Aris Gedanken. Sie seufzte. Bisher war sie nicht viel schlauer geworden, welche Antwort sie darauf hätte geben können. Sie wusste zu wenig über die Maßstäbe, wie Menschen ihre Lage einordneten. Gregori hatte sie darauf hingewiesen, dass es unschicklich gewesen war, dass sie zusammen in einem Bett geschlafen hatten. Bedeutete das ein Paar zu sein, wenn man das Bett miteinander teilte?

Etwas Unbekanntes streifte ihren Geist. Blitzartig fuhr Ari hoch und saß kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Herzschlag verdoppelte sich und sie lauschte angestrengt in die Nacht hinein.

„Da ist etwas", wisperte sie tonlos. Unbewusst nahm sie ihren sechsten Sinn hinzu und begann das Haus nach dieser fremden Person abzusuchen. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Im Eingangsbereich befanden sich zwei ihr fremde Persönlichkeiten. Ari wurde schlecht, als beide geduckt die Treppe hochstiegen – sie gehörten eindeutig nicht hier her.

Ari wusste, was passieren würde, ehe ihre Tür lautlos aufglitt. Es waren nicht die Einbrecher, sondern Silas, der in ihr Zimmer geschlichen kam.

„Ari, da sind zwei Männer im Haus", sagte er in ihren Gedanken und kam auf ihr Bett zu.

„Ich weiß", erwiderte sie schlicht und ergriff seine Hand, als er neben sie kletterte. Sie konnte genau fühlen, dass er am ganzen Leib zitterte. Beruhigend strich sie über seine kalten Finger.

„Was sollen wir machen?"

„Hast du es schon Mutter gesagt?" Im fahlen Licht des Zimmers sah sie, wie er den Kopf schüttelte.

„Ich konnte sie nicht aufwecken. Auch alle anderen im Haus schlafen tief und fest." Ein Zittern lief durch seine Glieder, als er den Verdacht aussprach, der Ari im selben Moment gekommen war: „Sie haben ihre Wahrnehmung getäuscht. Wahrscheinlich liegt über dem Haus ein Zauber, der die Kommunikation nach außen stört."

Ari nickte geistesabwesend, ihre gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die beiden Eindringlinge. Mittlerweile waren sie im Obergeschoss angekommen und bewegten sich zielstrebig auf ihr Zimmer zu. Ari wusste nicht genau warum, aber sie war sich sehr sicher, dass sie gekommen waren um sie zu holen.

Gregori hatte Recht, dachte sie und lächelte schief. Ich hätte seinen Bedenken mehr Beachtung schenken sollen.

Aber sie konnte sich nun nicht mit diesen Gedankenspielen aufhalten. Es waren zwei Fremde ihm Haus, die eindeutig nicht zum Tee vorbeigekommen waren.

„Silas", sagte sie eindringlich und griff seine Hand fester. „Du wirst dich jetzt verstecken. Kriech unters Bett oder geht in den Schrank, aber sieh zu, dass sie dich nicht bemerken."

„Aber was ist mit dir?" Seine Stimme klang selbst in ihrem Kopf dünn und ängstlich. Beruhigend strich sie ihm durchs Haar und sandte ihm ein Lächeln in seine Gedanken.

„Ich kann auf mich aufpassen, versprochen. Und jetzt beeil dich!"

Sie gab ihm einen sanften Schubs und beobachtete, wie er folgsam unters Bett kroch. Ihr Herz raste nun unkontrolliert und Adrenalin spülte durch ihre Adern.

Hoffentlich kann ich wirklich auf mich aufpassen, dachte sie und zwang sich zur Ruhe. Die Männer waren nur noch wenige Schritte von ihrem Zimmer entfernt, jeden Moment müssten sie zur Tür hereinkommen. Lautlos glitt Ari vom Bett und stellte sich mitten in den Raum. Zufrieden bemerkte sie, wie Silas seine Präsenz verschleierte.

Der Augenblick schien sich endlos hinzuziehen, als die Tür langsam geöffnet wurde. Ari ballte die Hände zu Fäusten und ließ langsam ihre Magie an die Oberfläche sickern. Sie würde nicht weglaufen oder sich kampflos ergeben. Die Luft lud sich mit Energie auf und sie konnte fühlen, wie diese wie Elektrizität um ihren Körper waberte. Ari war fest entschlossen sich zu wehren und herauszufinden, was die Motive der Einbrecher waren.

So schleichend wie sich die Tür geöffnet hatte, so rasant folgten die anschließenden Geschehnisse aufeinander. Ohne zu zögern drückte Ari mit telekinetischer Kraft gegen die Tür, um sie wieder zu verschließen. Die Männer reagierten schnell und stemmten sich ihrerseits mit gebündelter Kraft gegen das Holz. Obwohl Ari spürte, dass sie den beiden einzeln überlegen wäre, hatte sie gegen ihre Einheit kaum eine Chance.

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf und schlug gegen die Wand. Nur Sekundenbruchteile später fühlte Ari die unsichtbaren Finger, mit denen die Einbrecher nach ihr griffen. In der Luft zuckten kleine Blitze hin und her, als sie sich gegen den eisernen Griff wehrte. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die Ari selbst erschreckte, drang sie ihn die Gedanken ihrer Widersacher ein, nur um sofort gegen eine Wand zu laufen.

Sie tun das nicht zu ersten Mal, schoss es durch ihren Kopf. Aber sie hatte nicht genug Zeit, um diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Die beiden dunklen Gestalten kamen näher und ihr sankt das Herz: Sie konnte sie nicht erkennen, doch die Umrisse ihrer Körper ließen auf große körperliche Stärke schließen. Aris Lage wurde immer schlechter.

Kalter Schweiß brach ihr aus und sie schluckte trocken, da sie sich immer stärker gegen den telekinetischen Angriff wehren musste. Sie wusste zwar instinktiv, was sie tun musste, doch ihre Kontrahenten hatten eindeutig mehr Übung in dieser Technik. Sie waren schon fast bei Ari angekommen, als knapp an ihr vorbei eine Gestalt vorbeischoss, direkt auf die Männer zu.

„Silas!", keuchte sie verwirrt, als sich der Junge mit Fäusten und Füßen auf die Eindringlinge einschlug. Ari war wie gelähmt und konnte nichts tun, als der Mann eine lässige Handbewegung machte und Silas damit wie eine Fliege an die Wand zu seiner Rechten klatschte. Mit einem kraftlosen Seufzen sank er in sich zusammen und rührte sich nicht mehr.

„Silas!" Dieses Mal war es ein Schrei, der sich aus Aris Kehle löste. Ohne nachzudenken setzte sich Ari in Bewegung, um dem Kind zur Hilfe zu kommen. Diesen Moment nutzten die Fremden aus und packten sie – physisch mit eisernem Griff ihrer Arme und mental. Aris Entsetzten schlug augenblicklich in Angst um. Verzweifelt versuchte sie sich zu wehren, um sich zu treten oder das Bewusstsein ihrer Angreifer zu schädigen. Doch alles blieb ohne Erfolg.

„Halt endlich still", zischte der Mann in ihr Ohr, der sie von hinten gepackt hielt. Ari quittierte seine Forderung, indem sie ihn gegen das Schienbein trat. Lediglich ein dumpfes Grunzen war seine Reaktion, die Arme um ihren Bauch bewegten sich keinen Millimeter. Ihre Haut prickelte bereits unangenehm, weil ihre Magie gewaltsam blockiert wurde. Alarmiert sah sie, wie der andere Komplize ein kleines Fläschchen zu Tage förderte.

Scheinbar routiniert tränkte er ein Tuch damit und drückte dies fest auf ihr Gesicht. Panik bemächtigte sich Ari mit voller Wucht und sie tat das einzige, was ihr einfiel, ehe ihr von dem Betäubungsmittel die Sinne schwanden: Sie sammelte all ihre Kraft und schrie verzweifelt Gregoris Namen.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt