76 ~ Echte Herausforderung

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Er wird mich zerstören.

Das überlebe ich nicht.

Das kann nicht mein Ende sein!

Ich habe noch gar nicht angefangen zu leben.

Angst...

Das Wirrwarr der verschiedenen Gedanken in Aris Kopf war ohrenbetäubend. Eigentlich dachte sie, dass sie im Angesicht des Todes wie gelähmt sein würde. Doch stattdessen raste ihr Verstand mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin, während ihr Körper verzweifelt gegen die Ketten ankämpfte.

„Nana, so verhält sich doch keine Lady", wisperte Eriel leise und prallte gegen die Mauer ihres Verstands. Ein unmenschlicher Schrei löste sich aus Aris Kehle und sie wurde von einer riesigen Welle aus Schmerz überrollt. Die eisigen Klingen, zu der er seine Magie geformt hatte um sie zu zerstören, schnitten und kratzen an den Pforten ihres Gehirns. Langsam, Stück für Stück durchbrachen sie die Schichten ihrer Abwehr und arbeiteten sich zu ihrem kostbaren Bewusstsein durch.

„Tu etwas Ari!", schrie die personifizierte Magie in ihrem Inneren. Verzweifelt und an der Grenze zur Hoffnungslosigkeit konnte Ari nur schluchzen. Sie wollte nicht wieder schlafen, nie nie wieder. Diese unendliche Einsamkeit und Kälte würde sie nicht ein zweites Mal ertragen. Nicht, nachdem sie Licht, Lachen und vor allem Liebe kennen gelernt hatte.

Bilder durchfluteten ihre schmerzenden Gedanken. Gregori, wie er neben ihr auf der Traumwiese saß und ihr von seinen Sorgen erzählte. Dann wieder er, wie er neben ihr im Bett lag und sie verwirrt anblinzelte. Kurz darauf Myrtha, wie sie sie schelmisch anlächelte und ihr kleine Geschichten aus Gregoris Kindheit erzählte. Und schließlich wieder Gregori selbst, wie er sie liebevoll ansah, in seine Arme zog und sanft küsste.

Eriels grausames Lachen riss sie aus ihren Erinnerungen.

„Es ist wirklich rührend, dass Ihre letzten wachen Gedanken Ihrem Geliebten gelten", verspottete er sie und verstärkte seine Bemühungen, ihren Geist zu verstümmeln.

Keuchend sackte Ari auf die Knie und kniff die Augen zusammen. „Gregori..."

~

„Hanna, jetzt beruhig dich doch!", herrschte Lorlen sie an. Er hielt sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht, damit sie wieder zur Besinnung kam.

„Ganz ruhig, sonst verstehen wir kein Wort." Gregori stand neben ihm und sah Hanna mit einer Eindringlichkeit an, bei der es Lorlen kalt den Rücken hinunterlief.

„Was ist mit Ari?", fragte er und klang dabei gehetzt.

„Sie... hat... Schmerzen..." Hannas Stimme war seltsam gepresst und Lorlen dämmerte, dass sie noch halb in ihrer Vision gefangen war.

Sie erleidet Aris Qualen am eigenen Leib, dachte er und schüttelte sie nochmals.

„Hanna, komm zu dir." Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, drang er in ihren Geist ein und keuchte, als er das Chaos dort sah.

Hanna, bitte, hör damit auf", flüsterte er. Augenblicklich bemerkte er, wie alle Gedanken stillstanden und sich ihm zuwandten.

„Wir müssen sofort zu ihr!", sagte sie eindringlich und starrte ihn aus seltsam glasigen Augen an.

„Keine Sorge, das machen wir. Aber jetzt beruhige dich."

Sie nickte und das Durcheinander in ihrem Kopf ließ etwas nach. Vorsichtig glitt er wieder aus ihrem Gehirn und stellte erleichtert fest, dass ihr Gesicht wieder Farbe angenommen hatte. Behutsam strichen seine Hände ihre Arme hinunter und ließen sie schließlich los.

Gregori neben ihm wirkte wie ein Gespenst, als er seinen Blick auf ihn richtete. „Was sollen wir tun?"

„Hanna, weißt du wo sie ist?"

Fahrig strichen die Hände der Hario über ihr Gesicht und ihr Haar, mit verräterisch glitzernden Augen schüttelte sie den Kopf.

„Schon gut, du kannst nichts dafür", sagte Lorlen sanft und wischte die erste Träne von ihrer Wange.

Ilka erschien in der Tür, schwer atmend und mit einer Hand auf die Brust gepresst. „Was ist mit ihr?", fragte sie und sah alle drei gehetzt an.

„Hanna hatte eine Vision von..." Der Rest von Lorlens Satz ging in dem markerschütternden Schrei unter, den Hanna ausstieß. Wie eine Strohpuppe ging sie zu Boden, beide Hände an die Schläfen gepresst.

„Hanna!"

Gregori ließ sich neben ihr auf den Boden sinken und berührte vorsichtig ihre Schulter. „Ganz ruhig atmen."

„Was passiert hier?", zischte Lorlen und hockte sich neben die Hario.

„Irgendjemand macht... etwas mit Aris Bewusstsein."

„Sie steht durch die Vision in Verbindung mit ihr?", fragte Lorlen irritiert.

„Scheinbar." Gregori zuckte hilflos mit den Schultern. Ilka eilte an seine Seite und half ihm und Gregori, Hanna wieder aufzurichten.

„Ich habe eine Idee", verkündete sie und alle starrten sie an.

„Nun, wenn Lady Filimet... Hanna die Schmerzen meiner Tochter wahrnimmt, kann sie nicht weit sein."

Lorlen verstand und griff den Faden auf. „Dass heißt, Hannas Schmerzen werden immer schlimmer, je näher sie Ari kommt."

„Du kannst uns zu ihr führen", sagte Gregori hoffnungsvoll.

„Worauf warten wir also noch?", keuchte Hanna. Sie ignorierte Lorlens vorwurfsvollen Blick und ließ sich von ihm stützen. Sie würde alles versuchen, um Ari zu finden und vor was auch immer zu retten.

~

„Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal einer solchen Herausforderung gegenüber stand", zischte Eriel in Aris Gedanken. Entschlossen biss sie die Zähne zusammen und schwor sich, es ihm nicht leicht zu machen. Sie würde sich wehren, nicht wie ein verschrecktes kleines Mädchen alles über sich ergehen lassen.

Instinktiv ließ sie die Magie aus ihrem Inneren fließen – sie würde schon wissen, was sie tun musste. Ari war als ehemalige Träumerin stärker als Eriel, auch wenn er über mehr Erfahrung verfügte. Unerschrocken starrte sie in seine hellen Augen, richtete sich so gut es ging auf und erwiderte seine Attacken. Wenn sie sich auch plump anstellte, konnte sie dennoch sehen, dass er kurz schwankte.

Schon nach kurzer Zeit begann sich die Luft um sie herum mit Elektrizität aufzuladen. Lediglich am Rand bemerkte Ari, dass ihre Locken sich mehr als sonst kräuselten und sich die Haare auf ihren Armen aufstellten. Kurz darauf war die Energie auch sichtbar, zuckte als kleine Blitze durch die Kammer und erinnerte an ein Gewitter – nur ohne Wolken und Regen.

Befriedigt bemerkte Ari, dass sich Eriels Gesicht vor Anstrengung verzerrte und sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn bildete. Ein kurzer Ruck ging durch Aris Körper und sie keuchte, als Blut aus ihrer Nase tropfte.

Eriel lächelte grausam. „Gebt auf, kleine Lady."

„Niemals", konterte Ari und kopierte seine Angriffe, warf sie wie einen Spiegel auf ihn zurück. Unbarmherzig durchschnitt sie die Ränder seines Geistes, fügte seinem Gehirn Schaden zu und machte ihn Stück für Stück zu einem geistigen Krüppel.

Doch so leicht es ihr im Moment schien, war es nicht. Der Erschaffer Eriel war zäh und ließ sich nicht so leicht vernichten. Neue Attacken prasselten auf Aris Verstand nieder und schwächten sie. Immer wieder wurde ihre Sicht getrübt, ihr Körper fühlte sich fremder und kälter an. Lange würde es nicht mehr dauern, ehe einer von ihnen mit einem Hirn wie Mus zusammenbrach.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt