29 ~ Kalte Visionen

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Alles ist weiß, der Wind heult ohrenbetäubend und der eiskalte Wind peinigt die dunkle Gestalt. Wie ein Rußfleck auf einem blütenreinen Tuch verunstaltet die schwarz gekleidete Person die winterliche Landschaft. Regungslos liegt sie im Schnee, dem Tod näher als dem Leben.

Ruckartig setzte sich Ari auf und starrte in die Dunkelheit. Ihr Atem ging rasselnd und ihre Muskeln zitterten vor Anspannung.

„Oh mein Gott, er wird sterben", keuchte sie und warf die Bettdecke von sich. Hastig entzündete sie eine Kerze und lief zu ihrem Kleiderschrank – sie musste sich beeilen.

Die Vision war so unvermittelt über sie hereingebrochen wie ein Sommergewitter. Ari hatte noch nie zuvor eine Vision gehabt, dennoch hatte sie sie sofort erkannt. Und auch die Botschaft dahinter: Sie musste diesen Mann retten, der sonst hier in der Stadt den Tod finden würde.

Nachdem sie mehrere Unterkleider und ein warmes Wollkleid übergestreift hatte, ging sie hinaus auf den Gang und rannte die Treppe hinunter. Sie konnte fühlen, dass Gregori und Lorlen noch wach waren und sich im Wohnzimmer aufhielten. Ein kurzer Blick auf die Wanduhr neben der Garderobe zeigte ihr, dass es kurz vor Mitternacht war.

Während sie sich die Stiefel zuband kontaktierte sie Lorlen und Gregori.

„Draußen liegt ein Mann verletzt im Schnee. Ich muss ihn finden", sagte sie und sandte ein Bild aus ihrer Vision hinterher. Verständnislosigkeit und Sorge schlugen ihr entgegen, doch sie konnte nicht auf die Männer warten. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass es jeden Moment zu spät für den Verunglückten sein konnte. Mit der Kerzenflamme entzündete sie eine Laterne und verließ das Haus.

~

„Gregori, warte!"

Hektisch knöpfte Lorlen seinen Mantel zu und schloss die Tür hinter sich. Sein Kollege rannte bereits auf die Straße hinaus. Das Licht der Straßenlaternen wurde vom dichten Schneefall bedämpft und erhellte die Nacht nur unzureichend. Eine weitere Person schlüpfte unbemerkt aus dem Stadthaus.

„Beeil dich Lorlen!", rief Gregori, blieb jedoch nicht stehen. Schlitternd bog er um eine Ecke und geriet Sekunden aus Lorlens Gesichtsfeld.

Ich breche mir den Hals, dachte er und lief schneller. Sein Herz raste und die kalte Luft stach in seinen Lungen. Doch die Eile von Gregori war ansteckend. Bald hasteten sie nebeneinander durch die Straßen.

Routiniert schaffte Lorlen eine Verbindung zwischen sich und Gregori – der heulende Wind verhinderte eine andere Art der Unterhaltung.

„Wie kann sie in so kurzer Zeit nur so weit gekommen sein?", fragte er und sah Gregori aus dem Augenwinkel an. Dessen Gesichtshaut war so weiß wie der Schnee auf dem Boden.

Die dünne Membran, die Lorlens und Gregoris Emotionen während ihrer Verbindung voneinander trennte, zerbarst schier unter der Last der Gefühle von Gregori. Lorlen hatte Gregori noch nie so aufgewühlt erlebt. Selten hatte Lorlen jemanden getroffen, der sich so schnell anziehen und loslaufen konnte.

„Sie weiß ganz genau wo dieser Mann liegt. Wir hingegen müssen sie suchen", antwortete Gregori und blieb an einer großen Kreuzung stehen. Keine Spuren im Schnee verrieten ihm die Richtung, die Ari genommen haben könnte. Es war wie verhext. Verzweifelt fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare und hätte am liebsten laut geschrien.

Lorlen fasste ihn am Ärmel und sagte: „Du kannst sie erfühlen, wenn du dich auf das Band zwischen euch konzentrierst."

Augenblicklich zog sich Gregori von Lorlens Geist zurück und suchte die Nacht nach einer rothaarigen Emendi ab. Es dauerte einige Augenblicke ehe er scharf die Luft einzog und nach links rannte. Lorlen sah bitten gen Himmel und folgte Gregori.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt