17 ~ Große Macht

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„Komm Kindchen, wir gehen ein bisschen an die frische Luft", sagte Myrtha und berührte sacht Aris Arm. Die junge Frau zuckte zusammen und blinzelte Myrtha einige Male an. „Es kann nicht gut für dich sein, wenn du den ganzen Tag hier sitzt und vor dich hin grübelst."

Scheinbar schuldbewusst sah Ari auf Myrthas Hand und lächelte freudlos.

„Bist du sicher, dass du nicht auch Gedanken lesen kannst?", fragte Ari. Myrtha lachte leise und stand aus ihrem Sessel auf.

„Nein, aber ich kenne diesen Gesichtsausdruck von meinem Enkel."

Ari seufzte und folgte Myrtha zur Tür. Es war später Vormittag und die beiden Frauen hatten sich am Kamin des Wohnzimmers niedergelassen. Gregori saß wieder in seinem Arbeitszimmer und ließ nichts von sich hören oder sehen. Am Morgen war er sehr knapp angebunden gewesen – noch knapper als sonst. Myrtha hätte ihn gern nach dem Grund gefragt, doch nachdem sie Aris Blicke gesehen hatte, hielt sie es für besser den Mund zu halten.

Irgendetwas war zwischen den beiden, aber Myrtha konnte es nicht genau benennen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich zwischen ihnen mehr abspielte als auf den ersten Blick zu sehen war. Sie hatte gestern Abend deutlich das Summen von Magie in der Luft wahrgenommen, obwohl es im Haus ansonsten still gewesen war.

Sie unterhalten sich ziemlich viel, dachte sie und versuchte keine Grimasse zu ziehen. In solchen Momenten wünschte sie sich, dass die Gabe der Magieanwendung nicht an ihr vorbeigegangen wäre. Sie würde nur zu gern wissen, was die Emendi und ihr Enkel zu bereden hatten.

Festen Schrittes ging sie zur Garderobe und nahm ihren Schal.

„Mr Janks war so lieb auch an warme Schuhe und einen Mantel zu denken", sagte Myrtha und deutete auf die beigefarbene Jacke.

„Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ihr so viel Geld für mich ausgebt."

„Ari", meinte Myrtha in mahnendem Ton und sah die junge Frau ernst an.

„Schon gut." Ohne weitere Einwände zog sich Ari an, streifte ein Paar Handschuhe von Myrtha über und betrachtete sich gedankenverloren in dem schmalen Spiegel an der Wand.

„Schau nicht so kritisch, du bist hübsch." Myrtha trat neben sie und ihr Spiegelbild lächelte sie aufmunternd an.

„Ich würde vieles darum geben, so schöne Haare zu haben", seufzte Myrtha und betrachtete die roten Locken, die auf dem hellen Mantelstoff noch mehr hervortraten. „Und jetzt komm, sonst sind wir nicht pünktlich zum Mittagessen wieder daheim."

Sanft schob sie Ari zur Tür. Eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, als sie die massive Haustür aufzogen.

„Ich war noch nie draußen", murmelte Ari und sah sich unsicher um.

„Darum werden wir das jetzt ändern." Myrtha hakte sich bei Ari unter und gemeinsam gingen sie über die Türschwelle. „Keine Sorge, wir laufen nur ein kleines Stückchen", sagte Myrtha und ging mit Ari zum Gartentor.

Um das Haus herum war ein weitläufiges Gartengelände. Unsichtbar unter Schnee und Eis versteckt lagen Blumen, Sträucher und Bäume im Winterschlaf und warteten auf den Frühling. Doch auch jetzt war es ein herrlicher Anblick, wie die Sonnenstrahlen die weiße Decke glitzern ließen.

„Du musst aufpassen, dass du nicht ausrutschst", mahnte die alte Frau Ari und lächelte ihr zu. Diese nickte und erwiderte das Lächeln.

~

Aus dem Schatten des Vorhangs beobachtete Gregori, wie die beiden Frauen das Haus verließen. Er verharrte regungslos, als Aris Blick nochmals zum Haus zurückwanderte und an seinem Fenster hängen blieb. Wie ein leises Wispern fühlte er ihre Anwesenheit am Rande seines Geistes, ehe sie aus seinem Sichtfeld verschwand.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt