Vorahnungen und Befürchtungen plagten Gregoris Gedanken, während er aufstand und sich ankleidete. Selbst die niedrige Raumtemperatur und das kalte Wasser, mit dem er sich das Gesicht wusch, konnten ihn nicht ablenken.
Ganz in schwarz gekleidet trat er in den Gang hinaus und begegnete dort unerwartete dem Frühling – in Gestalt von Ari. Mit der hellen Haut, dem blutroten Haar und einem wollenen Kleid ganz in hellblau sah sie aus wie das blühende Leben. Und das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte wie ein Sonnenaufgang.
Albernes Geschwätz, rief sich Gregori zur Ordnung, konnte jedoch nicht verhindern sie weiter anzusehen.
Lorlen wird sich wohl nicht zu schade sein, um so eine Art Geschwätz laut auszusprechen, unkte sein Unterbewusstsein.
„Du musst dir keine Sorgen machen", sagte Ari und riss Gregori damit aus seinen Grübeleien.
Als er fragend eine Augenbraue hob, schüttelte sie den Kopf und meinte unschuldig: „Ich habe nicht gelauscht. Aber du bist so durcheinander, dass ich es trotzdem mitkriege." Sie tippte sich gegen die Stirn und lächelte.
Bevor Gregori darauf eingehen konnte, ertönte lautes Rumpeln aus dem Untergeschoss. Beide sahen sich einen Augenblick erschrocken an, ehe sie zur Treppe und hinuntereilten. Kalter Wind schlug ihnen entgegen und sie sahen, wie ein stämmiger Mann einen großen Koffer aus der Tür trug.
„Da seid ihr beide ja", ertönte Myrthas Stimme, als sie um die Ecke bog.
„Was hat das zu bedeuten?", fragte Gregori und deutete auf weitere Gepäckstücke. Myrtha zog sich gelassen ein Paar dicke Handschuhe über und lächelte verschmitzt.
„Ich verreise für einige Tage."
„Und was ist mit deinem Bein?", schaltete sich Ari ein und sah auf das bandagierte Körperteil.
„Keine Sorge Kindchen. Du hast hervorragende Arbeit geleistet, ich brauche nicht einmal mehr einen Stock." Liebevoll tätschelte sie Aris Hand und zwinkerte ihr zu.
Gregor räusperte sich. „Und wo willst du hin?"
Das Lächeln verblasste im Gesicht der alten Frau und man sah ihr jedes ihrer Jahre an. „Dolores Mann ist gestorben."
„Oh", murmelte Gregori und sah betreten zu Boden.
„Gregori, wer ist Dolores?" Vorsichtig klopfte Ari an seinen Geist. Er sah sie aus dem Augenwinkel an und wenige Sekunden später durchströmten Erinnerungsstücke ihre Gedanken.
Gregori als kleiner Junge, wie er mit einer braunhaarigen Frau Schach spielte, dann dieselbe Frau mit einem großen Geschenk in der Hand und dann einige Jahre später, wie sie im Kreise einer großen Familie saß.
„Dolores ist Myrthas beste Freundin, schon seit ihrer Kindheit. Sie ist eine nette alte Dame."
„Du magst sie", stellte Ari fest.
Es dauerte einige Momente, ehe Gregori sagte: „Ja, ich mag sie." Ari hatte noch weitere Fragen, doch Myrtha unterbrach ihre kleine Unterhaltung.
„Hört auf damit Geheimnisse vor mir zu haben. Wenn ich euer Geturtel nicht hören soll, dann geht doch bitte aus dem Raum." Myrtha sah streng zwischen den beiden hin und her.
„Myrtha, was ist Geturtel?"
„Ähm... unwichtig", kam Gregori seiner Großmutter zuvor.
Um vom Thema abzulenken sah er zu dem Kutscher, der in diskretem Abstand an der Tür stand. „Wie lange wirst du weg sein?"
~
Myrtha seufzte. „Ich weiß es nicht. Dolores hatte sich in ihrem Brief nicht genau geäußert, nur dass ich kommen soll." Sie knöpfte ihren Mantel zu. „Rechnet nicht vor nächster Woche mit mir."
„In Ordnung", sagte Gregori und nickte.
„Und seid anständig." Myrtha lächelte verschmitzt und gab beiden einen Kuss auf die Wange.
Sie war schon an der Tür angelangt, als sie sich nochmals umdrehte. „Ach ja, Mr Janks hat deine Kleider gebracht Ari. Sie stehen im Wohnzimmer."
„Danke", murmelte Ari und winkte der alten Dame zum Abschied. Das Klacken des Türschlosses hallte ungewöhnlich laut durch das Haus, als Myrtha gegangen war. Unheimliche Stille breitete sich aus.
Ari fröstelte und rieb sich über die Arme.
„Ist dir kalt?", fragte Gregori und musterte Ari von der Seite.
„Nein. Es ist nur... irgendwie wirkt das Haus leer ohne Myrtha."
„Hm", machte Gregori und nickte. Seine Großmutter verkörperte trotz ihres Alters das blühende Leben. Es würde Dolores sicher helfen, wenn Myrtha sie ein wenig von ihrer Trauer ablenkte.
„Ich geh auspacken", kündigte Ari an und ging ins Wohnzimmer. Gregori blieb im Flur stehen und sah ihr hinterher. Erschöpft schloss er für einige Atemzüge die Augen. Sogleich geisterten Myrthas Worte durch seine Gedanken, mahnten ihn nichts anzustellen und nicht hinter ihrem Rücken zu turteln. Er stieß frustriert den Atem aus und holte sich in die Gegenwart zurück.
„Gregori, ich glaub du musst mir helfen", ertönte Aris Stimme.
„Ich komme." Bereitwillig nahm er einen Stapel Schachteln von ihr entgegen und trug sie in ihr Zimmer hinauf.
~
Immer wieder verschwammen die Buchstaben und Worte vor Gregoris Augen, bildeten unleserliche Gebilde und machten ihm das Lesen unmöglich.
„Du schlägst Wellen", sagte Ari ruhig und blickte von ihrem eigenen Buch auf.
„Was?", fragte Gregori und sah sie verständnislos an.
Ari lächelte ihn aufmunternd an und tippte sich an die Stirn. „Deine Gedanken schlagen Wellen, die jeder annähernd Magiebegabte im Umkreis wahrnehmen kann."
„Tut mir leid", murmelte Gregori und versuchte sich und das Chaos in seinem Kopf zu beruhigen.
„Sag mir doch was dich so beschäftigt", bat Ari, schlug das Buch zu und legte es beiseite.
Gregori seufzte und sah in ihre hellen Augen. Doch ehe er zu einer Erklärung ansetzen konnte, schrillte eine kleine Alarmglocke in seinem Geist.
„Er kommt", sagte er und war bereits aufgestanden. Ari atmete lediglich tief durch und folgte ihm – was blieb ihr auch anderes übrig?
Beide hatten die Haustür fast erreicht, als es laut klopfte. Ari konnte sehen wie sich Gregoris Schultern verspannten und er sich kerzengerade aufrichtete. Behutsam legte sie eine Hand auf seinen Rücken.
„Beruhige dich", flüsterte sie in seine Gedanken hinein. Sie verstand nicht, warum Gregori so aus dem Takt geraten war. Scheinbar war Lorlen ein netter Mensch, doch Gregori benahm sich als würde ein kriegerisches Heer vor seinem Haus stehen.
„Du verstehst das nicht", sagte er leise und öffnete die Tür. Vor ihm stand Lorlen, in mehrere Schichten Kleidung eingepackt und mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Hallo Gregori." Er neigte den Kopf zur Seite um an seinem Kollegen vorbei zu blicken. „Hallo Lady Dulciten", begrüßte er Ari.
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, brummte Gregori: „Komm rein."
Lorlen, der scheinbar an diese Unfreundlichkeiten gewöhnt war, zuckte mit den Schultern und trat über die Schwelle. Ari musterte ihn interessiert, obwohl sich Gregori wie eine Wand vor sie stellte. Mit den dunkelbraunen Haaren, den braunen Augen und den breiten Schultern sah Lorlen Gregori überhaupt nicht ähnlich – obwohl sie gleich alt waren.
„Man sollte nicht meinen wie viel Schnee auf den Straßen liegt. Der Schlitten kam kaum voran", plauderte Lorlen gelassen während er seinen Mantel ablegte.
„Was genau sind Schlitten?", fragte Ari in Gregoris Kopf.
Gregori brauchte einige Augenblicke ehe er ihr antwortete. „Das sind Kutschen, die statt Rädern Kufen haben." Es folgte eine kleine Bilderreihe, die Gregori ihr aus seinen Erinnerungen übermittelte. Als sich Ari wieder aus seinen Gedanken zurückzog, bemerkte er Lorlens stechenden Blick.
„Ihr könnt euch gern laut unterhalten." Betreten wandte Ari den Blick ab und sah auf den Boden. Gregori war sich hingegen keiner Schuld bewusst und ignorierte Lorlens Einwand. Dieser atmete tief durch und hängte seine Habseligkeiten an die Garderobe.
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Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...