Es war eine riesenhafte Klaue aus Eis, die Natalia unbarmherzig im Griff hatte, ihr die Luft zum Atmen raubte und ihren Magen rebellieren ließ. Sie konnte kaum glauben, dass vor einer Stunde die Welt noch in Ordnung gewesen war, wenn sie jetzt vor deren Scherben stand. Sie hoffte inständig, dass die anderen Ratsmitglieder die Dringlichkeit ihrer mental einberufenen Sitzung erkannten und alle erschienen. Ihr aller Leben könnte davon abhängen.
Eigentlich sollte sie Mitleid oder wenigstens Bestürzung empfinden, doch in ihr herrschte lediglich Chaos. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr, während sie von ihren Privaträumen durch die Korridore zum Ratssaal lief. Sie war so mit sich selbst und ihren Gedanken beschäftigt, dass sie Vivian kaum bemerkte und erschrocken zusammenzuckte, als sie von ihr angesprochen wurde.
„Was gibt es denn so dringendes?", fragte die andere Ratsfrau und ging neben ihr her.
„Das kann ich hier nicht sagen", antwortete Natalia ihr stumm.
Die andere legte die Stirn in Falten, beließ es aber dabei. Natalia war ihr dankbar, denn bisher waren ihr die richtigen Worte nicht eingefallen, mit denen sie die Katastrophe verkünden sollte. Frustration machte sich in ihr breit. Sie hatte noch nie Schwierigkeiten damit gehabt, mit Worten umzugehen. Ihr Vorgänger im Rat hatte sie rhetorisch hervorragend ausgebildet, aber das nützte ihr im Moment nichts. Es hatte sie nie jemand darauf vorbereitet, was sie in einer solchen Situation tun sollte.
Natalia war übel, als sie den Saal erreichten und bereits alle Ratsmitglieder anwesend waren.
„Was ist so wichtig, dass es nicht bis zu unserer nächsten offiziellen Sitzung warten kann?", fragte Tristan mürrisch. Der alte Mann gab gern vor, sehr beschäftigt zu sein. Natalia hätte ihn am liebsten angeschrien, dass er ohnehin nur in seinem Büro saß und die Wand anstarrte. Stattdessen stellte sie eine gelassene Miene zur Schau und nahm Platz.
An einen der Ratsdiener gewandt sagte sie: „Wir wollen ungestört sein."
Der Mann nickte, ging hinaus und schloss die schweren Holztüren.
„Nun?", hakte Parlan nach.
Natalia haderte einige Sekunden mit sich, ehe sie sich für die nackte Wahrheit entschied. „Ari Dulciten ist entkommen und Eriel ist tot. Wir müssen davon ausgehen, dass unser Geheimnis gelüftet wurde."
Stimmengewirr erfüllte die Halle, empörte Worte drangen aus jedem Mund und schwirrten in der Luft wie wütende Bienen.
„Ruhe!", forderte Vivian und maß alle mit tadelndem Blick. „Euer Geschwätz hilft uns nicht weiter." An Natalia gewandt fragte sie: „Bist du sicher, dass es sich so zugetragen hat? Weiß die erwachte Träumerin wirklich bescheid?"
Mit ernster Miene nickte Natalia, obwohl sie es nicht zu hundert Prozent wusste. Aber sie hatte so eine Ahnung und würde auf keinen Fall etwas riskieren, nur weil sie die Augen vor den hässlichen Tatsachen verschloss.
Karon räusperte sich und sagte: „Was sollen wir tun?"
Tristan schnaubte verächtlich. „Frag lieber was Natalia tun soll, schließlich hat sie dieses Desaster zu verantworten."
„Halt den Mund, alter Mann. Ihr seid genauso geliefert wie ich, sollte unser kleines schmutziges Geheimnis an die Öffentlichkeit dringen", giftete Natalia.
„Hört auf euch wie zankende Kinder zu benehmen." Parlan sah beide streng an. „Natalia hat Recht, wir stecken alle in großen Schwierigkeiten. Bevor wir mit gegenseitigen Schuldzuweisungen wertvolle Zeit verlieren, sollten wir uns lieber gleich eine Lösung einfallen lassen."
Natalia verschränkte die Arme vor der Brust, sagte jedoch nichts.
Tristan nickte lediglich.
„Schön", meldete sich Vivian wieder zu Wort. „Was sollen wir a-"
Doch weiter kam sie nicht, denn von jenseits der Saaltür wurden Stimmen laut – wütende Stimmen.
DU LIEST GERADE
Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...