51 ~ Mutter und Tochter

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Ari musste feststellen, dass Silas nicht im Geringsten geprahlt hatte. Der Garten ihrer Mutter war tatsächlich atemberaubend. Es war bereits Nachmittag, trotzdem entdeckte Ari immer neue Pflanzen und Blüten, die strahlend schön ihre Blätter der wärmenden Sonne entgegenstreckten. Gedankenverloren rührte sie in ihrem Tee, der wie von Geisterhand in den Garten flogen war.

Der ganze Tag kam ihr unwirklich vor, als würde sie jeden Moment aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Dem Jungen und der Frau war es sogar gelungen, sie einige Stunden von ihrer Einsamkeit und Sehnsucht abzulenken. Hier schien ihr das Atmen leichter zu fallen und die Last, die ihre Schultern herunterdrückte, wirkte nicht mehr ganz so schwer.

„Woran denkst du?" Aris Blick huschte zu ihrer Mutter. Ihre Lippen waren zu einem sanften Lächeln verzogen und sie musterte Ari interessiert. Ari war mit ihrer Mutter allein, denn Silas war vor wenigen Minuten von einem gleichaltrigen Mädchen zum Spielen abgeholt worden. Ari mochte ihn wirklich, sie hatte ihn schon in ihr Herz geschlossen.

„Könntest du es nicht herausfinden?", fragte sie interessiert.

Entrüstet riss die Frau ihre Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. „Niemals. Es käme einem Einbruch gleich und würde ebenso bestraft werden. Nur weil wir Emendi diese Gabe besitzen, ist das noch lange kein Freischein zu deren uneingeschränkter Nutzung."

Ari nickte. „Bei den Menschen ist das ähnlich."

„Wie denn?" Ari spürte genau das Interesse ihrer Mutter und musste lächeln.

„Die Conex in der Menschenwelt können ebenfalls in die Köpfe ihrer Mitmenschen hineinblicken."

Etwas Dunkles huschte über Ilkas Züge und ließ Ari stutzen. „Ich habe mich schon unzählige Male gefragt, wie die Menschenwelt ist." Seufzend sah sie auf ihren Tee hinunter und fügte hinzu: „Ich habe mir Sorgen gemacht, dass es dir dort nicht gut gehen könnte."

Es dauerte einen Moment, ehe Ari die Worte verarbeitet hatte. Sie war überrascht und gleichzeitig gerührt. Einem spontanen Impuls folgend legte Ari ihre Hand auf die ihrer Mutter. Leicht drückte sie sie und sagte: „Deine Sorge war unbegründet Mutter, es hat mir dort sehr gefallen."

Der Schmerz wich von Ilkas Zügen und sie erwiderte Aris Händedruck. „Willst du mir jetzt vielleicht von dem Menschen erzählen, dem du zuletzt zugeordnet warst?"

„Er...", fing Ari an, brach jedoch ab.

Ermunternd sah ihre Mutter sie an und fragte: „Es war ein Mann?"

Ari nickte langsam. Sie focht einen kurzen Kampf in ihrem Inneren aus, ob sie mehr erzählen sollte oder nicht. Einen quälend langen Augenblick fragte sie sich, ob sie ihrer Mutter trauen konnte. Bisher hatte sie keinem Emendi wirklich von Gregori erzählt. Sie würde nicht vermeiden können, dass ihre Worte ihre Zuneigung zu ihm verrieten. Schließlich gab sie sich selbst einen Ruck. Wenn sie nicht der Frau vertrauen konnte, die ihr das Leben geschenkt hatte, wem sollte sie dann vertrauen?

„Ja, ein Mann. Er heißt Gregori Sileri", antwortete sie schließlich.

„Und?"

„Nun, er ist Telepath. Ein Conex also." Ihre Mutter nickte und schien die Informationen in sich aufzunehmen. „Er lebt zusammen mit seiner Großmutter Myrtha in einem Haus." Ari lächelte bei dem Gedanken an die alte Frau. „Myrtha hat sich immer sehr liebevoll um mich gekümmert. Sie hat mit mir geredet und mir manchmal vorgelesen. Du musst wissen, dass ich nicht vollkommen von meiner Umwelt abgeschnitten war."

Ilkas Gesicht nahm einen wehmütigen Ausdruck an. Verlegen senkte sie den Blick und sagte leise: „Es freut mich, dass diese Frau dich umsorgt hat. Wenigstens sie..."

Ari verstand sofort, worauf ihre Mutter hinauswollte. „Bitte, ich gebe dir wirklich keine Schuld. Ihr hättet mich nicht behalten können."

Ilka seufzte. „Ja, das ist wahr. Entschuldige, aber ich fühle mich trotzdem wie eine Rabenmutter."

„Silas sieht mir nicht nach einem Kind aus, dem es an mütterlicher Liebe fehlt", sagte sie aufmunternd und lächelte.

Ilka nickte und trank ihre Tasse leer. „Ich sollte mich wirklich schämen, mich in Selbstmitleid zu baden", sagte sie entschieden. „Ich sollte lieber meine Neugier befriedigen." Sie lächelte verschmitzt und goss sich und Ari Tee nach. „Erzähl mir mehr über diesen Gregori."

Plötzlich verlegen begann Ari an ihrem Rock herumzuzupfen. „Ich weiß nicht... Was möchtest du denn gern wissen?"

„Nun", überlegte Ilka und fasste sich ans Kinn. „Wie sieht er denn aus?"

„Er... ist etwas älter als dreißig, gut eineinhalb Köpfe größer als ich, hat eine drahtige Figur, blondes Haar und grüne Augen." Ari schmunzelte, während Gregoris Gesicht vor ihrem inneren Auge erschien. „Er lächelt nicht oft, aber wenn doch, dann scheinen seine Augen von innen heraus zu leuchten."

„Sieh einer an", sagte Aris Mutter, stützte ihr Kinn in eine Hand und lächelte Ari an.

„Was?", fragte diese unschuldig.

Ilka grinste nun und die Fältchen um ihren Mund und ihre Augen verliehen ihr ein verschmitztes Aussehen. „Du scheinst ihn zu mögen, sehr sogar."

„Ja", antwortete Ari gedehnt und war sich bewusst, dass ihre Wangen langsam rot wurden.

„Mag er dich denn auch?"

Ja, tut er das denn?, fragte die hässliche kleine Stimme des Zweifels.

Entschieden schob Ari sie beiseite. Natürlich mag er mich auch. Das hat er oft genug bewiesen, entgegnete sie. Er sorgte sich um sie, tröstete sie und brachte sie zum Lachen. Sie hatte seine Zuneigung gespürt, jedes Mal, wenn sich ihre Gedanken eng miteinander verflochten hatten.

„Ich denke, ja."

Ilka tätschelte ihr Knie und sagte: „Das freut mich für dich." Ihr Gesicht wurde etwas ernster. „Du wirst wieder zu ihm zurückkehren, nicht wahr?"

„Ja", sagte Ari schlicht. Der Gedanke, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, brannte wie Säure in ihren Adern. Sie sah aber auch den traurigen Ausdruck auf Ilkas Gesicht. „Er hätte sicher nichts dagegen, wenn du uns besuchen kommen würdest."

„Das wäre sicher schön", sagte ihre Mutter und lächelte wieder.

Um von diesem Thema abzulenken, begann Ari von Gregoris Haus zu erzählen, von Lorlen und Hanna und all den Dingen, die sie in der Menschenwelt fasziniert hatten. Ilka lauschte ihr gebannt, stellte Fragen und lachte sogar, als sie von Lorlens und Hannas unzähligen Streitgesprächen erzählte.

„Du hast dieselbe schöne Stimme wie deine Großmutter", sagte Ilka, als gerade die Sonne den Horizont berührte. „Sie konnte ebenfalls stundenlang erzählen, ohne dass sich die Zuhörer gelangweilt haben." Sie lächelte mit einer Mischung aus Stolz, Schmerz und Liebe. „Es ist die perfekte Stimme, um Kindern Geschichten und Märchen vorzulesen."

„Danke", sagte Ari verlegen und folgte ihrer Mutter ins Haus.

„Ich lese Silas manchmal noch abends etwas vor. Er behauptet zwar, er sei jetzt ein großer Junge und will keine Märchen mehr hören, aber wenn ich dann anfange, hängt er an meinen Lippen." Ilka lachte leise.

„Ich habe ein Buch von Gregori dabei", sagte Ari, ehe sie es sich anders überlegen konnte. „Meinst du, er würde sich über eine Geschichte daraus freuen?"

„Bestimmt", sagte Ilka und lächelte.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt