49 ~ Mysteriöse Heilung

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„Gehen Sie doch einen Moment an die frische Luft, Lady Dulciten. Mein Assistent wird Ihnen einige Erfrischungen in den Garten bringen." Eriel bedachte Ari mit einem fast freundlichen Blick und deutete auf eine Tür, die ins Freie führte. Nur zu gern nahm sie sein Angebot an.

„Ich komme nachher noch zu Ihnen", sagte Lady Insidior. Sie war vor wenigen Minuten in dem Labor des Wissenschaftlers angekommen und hatte sich nach dessen Fortschritten erkundigt. Ari war ihnen nicht böse, dass sie sie rausschickten. Ihr Kopf fühlte sich ohnehin an wie eine überreife Melone.

Es war erst Mittag und trotzdem fühlte sie sich zerschlagener als am vergangenen Abend. Eriel hatte so intensiv in ihrem Gehirn nach Informationen gesucht, dass sie sich innerlich wund und geschunden vorkam. Außerdem überlastete sie langsam die Anstrengung, ihre Barrieren und Schutzreflexe zu unterdrücken. Sie sehnte sich nach Abgeschiedenheit, Ruhe und...

Nach Gregori, dachte sie und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl unter einer dicht bewachsenen Pergola sinken.

Die unverbrauchte Luft tat ihr gut und sie atmete gierig das Aroma der blühenden Pflanzen ein. Sie würde nie wieder eine Bibliothek betreten können, ohne von dem Geruch der alten Bücher an dieses schreckliche Labor erinnert zu werden. Ari wusste nicht, wie lange sie diese Prozedur noch über sich ergehen lassen musste. Sie wollte zwar den anderen Träumern helfen, aber die Bereitschaft dazu schwand mit jeder Stunde in der Gesellschaft dieses Mannes.

~

Natalia sah Eriel an und wartete auf seine Antwort. Sie musste sich sehr bemühen, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Die anderen Ratsmitglieder saßen ihr im Nacken und marterten sie mit der Frage, wann der Wissenschaftler endlich etwas Brauchbares herausfinden würde. Halb verfluchte sich Natalia, weil sie die Leitung dieses Projekts an sich genommen hatte. Sosehr sie das Thema auch interessierte, hätte sie lieber die Finger davonlassen sollen.

„Und?", hakte sie nun doch nach, weil sie das Schweigen nicht mehr ertrug. Eriel war ein Mann, der nicht viele Worte brauchte. Normalerweise schätzte Natalia diesen Charakterzug an ihm, denn sie war jeden Tag von viel zu vielen plappernden Mäulern umgeben. Aber nun... Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt. Oder seine mentalen Barrieren durchbrochen.

Gelassen blätterte der Wissenschaftler in seinen Aufzeichnungen. „Ari Dulciten besitzt einen äußerst faszinierenden Geist."

„Das weiß ich selbst", sagte Natalia und klang dabei giftiger, als sie es beabsichtigt hatte. Aber sie hatte schließlich selbst einen Blick auf das Bewusstsein der jungen Frau geworfen. Sie interessierten ganz andere Dinge.

„Nun, die bisherigen Beobachtungen lassen mich vermuten, dass sie geistig vollkommen gesund ist." Er zog ein Blatt heraus, das von all den dicht aneinander geschriebenen Worten schwarz wirkte. „Die Veränderung ist allerdings erst vor einigen Jahren eingetreten."

Eriel reichte Natalia die Zeittafel, die er erstellt hatte. „Wie Sie sehen, war ihr Zustand bei ihren ersten beiden gebundenen Magiebegabten nicht von einem gewöhnlichen Träumer zu unterscheiden."

Begierig sog Natalia die Informationen auf, die das Schaubild ihr aufzeigte.

„Tatsächlich...", sagte sie erstaunt und sah wieder in Eriels silbergraue Augen.

Dieser nickte und deutete auf einen Abschnitt auf dem Dokument. „Aber hier, kurz nachdem sie in die Obhut von Sir Sileri gegeben worden war, veränderten sich plötzlich die Struktur ihres Bewusstseins."

„Was bedeutet das?", hakte Natalia nach. Aber sie ahnte bereits, was der Mann ihr gleich sagen würde.

Sein Gesicht wirkte so unbeweglich wie immer, seine Augen klar und das dunkle Haar ohne jeglichen Lichtreflex. Doch seine Stimme war tiefer als sonst, jagte ihr einen winzigen Schauer über den Rücken.

„Das bedeutet, dass Gregori Sileri es irgendwie bewerkstelligt hat, dass sich Lady Dulcitens Geist erholte und wieder vollkommen geheilt wurde."

~

„Was soll das heißen, er will mich heute nicht sehen?" Entgeistert starrte Ari den Boten an.

„Vergebt mir, dass ich Ihnen diese Nachricht nicht früher überbracht habe", antwortete der Mann und wirkte sichtlich betroffen. Ari blinzelte mehrmals und zwang sich, nicht mehr wie ein verdattertes Huhn auszusehen. Eigentlich sollte sie die Botschaft freuen, dass sie heute nicht in Eriels Labor musste.

„Darf ich den Grund erfahren?"

Der Diener zuckte mit den Schultern und verdrehte unauffällig die Augen. Scheinbar war das nicht die erste Sinneswandlung des Wissenschaftlers.

„Sir Eriel ist mit Nachforschungen beschäftigt. Er meinte, dass er Ihre Anwesenheit heute nicht benötigte."

„Nun gut, danke", sagte Ari und der Mann verabschiedete sich schnell. Unentschlossen blieb sie in dem Vorhof stehen und überlegte sich, was sie nun tun sollte.

Du könntest deine Familie näher kennenlernen, flüsterte ihr eine Stimme zu. Ari atmete tief ein und aus. Sie wollte es, wollte diesen beiden Menschen näherkommen, doch es war schwierig für sie. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass sie nur hier willkommen geheißen worden war, weil sie eine vollständige Emendi war.

Die Emendi streben nach Perfektion – Fehler können sie nicht dulden.

Gregoris Worte holten sie ein. Es versetzte Ari einen Stich, dass sie als Träumerin von hier fortgeschickt worden war. Sie wusste bereits genug über die Bewohner dieser Stadt, um zu wissen, dass ein Träumer in der Familie mit einem Schmutzfleck auf einem schneeweißen Tuch gleichzusetzen war. Es kam einer Schande gleich, wenn etwas Unvollkommenes aus den eigenen Genen entstanden war.

Aber sie haben sich wirklich gefreut, als ich angekommen bin, dachte Ari.

Sie hatte es nicht absichtlich getan, aber in den ersten Stunden ihres Aufenthalts in dieser Welt waren ihre Sinne überempfindlich gewesen. Unbeabsichtigt hatte sie manchen Gedankenfetzen aufgefangen.

„Gehst du heute nicht fort?", ertönte Ilkas Stimme hinter ihr.

Ari drehte sich zu ihrer Mutter um und lächelte schief. „Nein, scheinbar ist meine Anwesenheit heute nicht gewünscht."

Die Frau kam näher und Ari stellte wieder einmal fest, wie ähnlich sie sich sahen. Heute hatte Ilka ihr rotes Haar zu einem Knoten geschlungen, doch einige widerspenstige Locken umrahmten ihr Gesicht. Sie wirkte jung, trotz ihrer fünfzig Jahre.

„Was möchtest du stattdessen tun?"

Überrascht blinzelte Ari. „Ich?", fragte sie unsicher und sah Ilka an. Diese nickte.

„Sicher, schließlich kannst du deine eigenen Entscheidungen treffen."

„Nun..." Doch ehe Ari einen Gedanken formulieren konnte, kam Silas aus dem Haus auf sie zu gerannt.

„Ari bleibt heute hier?", platzte es aus ihm heraus und er strahlte über das gesamte Gesicht.

Ilka nickte und strich ihm über den Kopf. „Ja. Ich habe sie gerade gefragt, was sie machen möchte."

„Sie muss sich unbedingt deinen Garten ansehen", forderte der Junge und sah zu Ari. Seine blassen Augen funkelten und er sagte voller Stolz: „Mama hat die schönsten Blumen der ganzen Stadt."

„Du sollst nicht prahlen", schalt Ilka ihren Sohn, lächelte aber dabei. Ari fühlte sich überrumpelt, doch der Vorschlag war besser, als sich in ihrem Zimmer zu verkriechen und sich ihrer Sehnsucht hinzugeben. Also nickte sie und ließ sich von Silas am Haus entlang in ein grünes Paradies führen.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt