70 ~ In falschen Händen

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Ungehalten blicke Natalia von den Dokumenten auf, die sich auf ihrem ausladenden Schreibtisch stapelten. Sie hasste es mitten in der Arbeit gestört zu werden.

Wenn ich diesen Wurm von einem Assistenten in die Finger kriege!, grollte sie still, aber das nütze nun auch nichts. Ihr Besuch, den ihr nutzloser kleiner Dienstbote ihr telepathisch angekündigt hatte, war bereits auf dem Weg zu ihren Räumen. Wahrscheinlich war es Tristan, der ewige Nörgler.

Leichter Kopfschmerz setzte ein, als sich die Tür geräuschlos auftat. Doch ehe Natalia zu einer bissigen Frage ansetzen konnte, fiel ihr Blick auf den dunklen und groß gewachsenen Mann, der ihr Arbeitszimmer betrat. Sie ließ die Luft langsam aus, die sie unbemerkt angehalten hatte.

Ich hätte es eigentlich wissen sollen, sagte sie sich und setzte in freundliches Gesicht auf – sie musste es nicht einmal vorspielen.

Eriel trat an ihren Schreibtisch und deutete eine kleine Verbeugung an – wenigstens er besaß noch anständige Manieren. „Ratsfrau Insidior, ich hoffe ich störe Sie nicht."

„Nein, ganz im Gegenteil." Mit einem Kopfnicken bedeutete Natalia ihm sich zu setzen. Mit einer Eleganz, die man seinem fast zwei Meter hohen Körper nicht zutrauen würde, ließ sich der Wissenschaftler auf das Möbelstück sinken. Nur mit Müh und Not konnte Natalia ihre Ungeduld unterdrücken. Sie fühlte, dass er wichtige Neuigkeiten für sie hatte.

Ein dezentes Klopfen am Rand ihres Bewusstseins bestätigte ihre Hoffnung, denn Eriel kommunizierte nur durch Telepathie mit ihr, wenn es wirklich, wirklich wichtig war.

„Ich wollte durch meinen Besuch sicherstellen, dass die Informationen nicht versehentlich in den falschen Händen landen", sagte Eriels tiefe Stimme direkt in Natalias Kopf.

Sie nickte. „Weise Entscheidung. Also, was haben Sie für mich?"

Etwas wie ein Lächeln verzog seine Mundwinkel und seine silbernen Augen schimmerten wie Quecksilber. „Durch meine bisherigen Aufzeichnungen konnte ich feststellen, was Ari Dulciten geweckt hat."

Natalia zog hörbar die Luft ein und starrte ihn an – doch diese unüberlegte Reaktion war ihr in diesem Moment egal. Ihr wäre es sogar egal gewesen, wenn ihr Mund offen stehen bliebe oder ihr die Augen aus dem Kopf fielen.

Endlich!, dachte sie euphorisch.

„Und?"

„Nun... Es ist tatsächlich so, wie wir vermutet haben." Eriel machte eine kurze Pause und Natalia hätte ihn dafür am liebsten in Stücke gerissen. Dieser Mann genoss eindeutig die Macht, die er für diesen kurzen Moment in ihrer komplizierten Beziehung zueinander innehatte. Aber Natalia wusste, dass sich das bald wieder ändern würde. Schließlich war sie die stärkere von beiden.

„Es war die Verbindung zu dem Mensch Gregori Sileri. Ich bin heute auf den wahren Grund gestoßen, als ich einen kleinen Notizzettel gefunden habe."

Natalia wusste, dass Eriel, wenn er in den Gehirnen anderer herumgeisterte, sich unablässig nebenher Notizen machte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sich an die Hälfte seiner Aufschriebe nicht mehr erinnerte, nachdem er die Sitzung beendet hatte.

Der Wissenschaftler deutete wieder ein Lächeln an, dieses Mal wirkte es jedoch ungläubig. „Ich hatte in Lady Dulcitens Gehirn etwas entdeckt, das ich erst für unwichtig gehalten habe."

„Spucken Sie's endlich aus!", zischte Natalia und funkelte ihr Gegenüber böse an.

„Verzeiht", entschuldigte sich Eriel. „Es war oder vielmehr ist Liebe."

„Das ist nicht Ihr Ernst." Nun verstand Natalia, warum der Mann ein skeptisches Gesicht gezogen hatte.

„Natürlich ist es mein Ernst. Unter diesem Gesichtspunkt fügen sich alle Puzzleteile zu einem Ganzen." Der Wissenschaftler nickte nachdrücklich. „Liebe liefert die Erklärung, warum sich der Zustand der Träumerin erst geändert hat, als sie in Sir Sileris Obhut gegeben worden war. Scheinbar besteht zwischen den beiden eine solch innige Liebe, das dadurch der Schaden am Gehirn von Lady Dulciten geheilt wurde."

„Das ist... unglaublich", sagte Natalia laut und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Sie schwieg einige Minuten und ließ sich diesen Fakt durch den Kopf gehen. Ja, es erklärte wirklich vieles. Vielleicht war Ari Dulcitens Geist nicht von Anfang an so sehr geschädigt gewesen, wie es bei anderen Träumern der Fall war. Ihr selbst waren schon einige Fälle zu Ohren gekommen, in denen sich die magiebegabten Menschen unsterblich in ihre gebundenen Träumer verliebt hatten.

Behutsam massierte sie ihre Nasenwurzel und schloss kurz die Augen. „Das bedeutet wohl, dass sich dieses Phänomen nicht wiederholen lässt – zumindest nicht willentlich. Nicht wahr?"

Eriel nickte. „So ist es."

„Nun, das ist doch..." Natalia seufzte leise und ein diabolisches Lächeln verzog ihre Lippen. „Das ist doch wunderbar."

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt