22 ~ Meinungsverschiedenheiten

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Myrtha war es, als wäre das Zimmer mit Wackelpudding gefüllt. Die Atmosphäre war so dicht und aufgeladen, dass sie sie wohl mit dem Buttermesser durchteilen konnte. Schon als sie die starken telepathischen Schwingungen wahrgenommen hatte, hatte sie Ivina schnell nach Hause geschickt.

Auf ihren Stock gestützt war sie ins Wohnzimmer gehumpelt, zur Quelle des Magiefeldes. Als sie die Tür öffnete zeigte sich ihr eine Szene, die verwirrender nicht sein konnte: Ari und Gregori standen sich wie zwei Statuen gegenüber. Die ehemalige Träumerin vollkommen regungslos, während ihr Enkel sie erstaunt anstarrte.

Räuspernd machte Myrtha auf sich aufmerksam, obwohl sie nur zu neugierig war, was hier gerade vor sich ging. Während Ari scheinbar gelassen ihren Kopf zu Myrtha drehte, zuckte Gregori überrascht zusammen.

„Jeder Mensch in Drijra, der auch nur ein kleines Stückchen magiebegabt ist, hat gerade eure kleine Auseinandersetzung miterlebt", sagte sie gelassen und stütze sich auf ihren Stock.

Schuldbewusst senkte Ari den Kopf und murmelte: „Entschuldigung."

Verwirrt hob Myrtha eine Augenbraue. „Wie, hast du damit angefangen Ari?"

„Ja."

„Na so was", sagte die alte Frau erstaunt. Von ihrem Enkel hätte sie so etwas erwartet, aber von dem sanften Mädchen nicht.

Stille Wasser sind tief, ging es ihr durch den Kopf.

Sie vermutete, dass hinter der ruhigen Fassade der jungen Frau ein nicht unbeachtliches Temperament schlummerte. Myrtha lächelte in sich hinein.

Genau das richtige für meinen verklemmten Jungen.

„Das Essen ist fertig. Nachdem ihr euch so verausgabt habt, tut euch ein ordentliches Frühstück sicher gut." Ari nickte still und ging an Myrtha vorbei aus dem Zimmer. Als Gregori an seiner Großmutter vorbei ging, versperrte sie ihm mit den Stock den Weg.

„Du machst ihr und dir das Leben schwer."

Ungerührt sah Gregori seine Großmutter an. „Ich weiß nicht von was du sprichst."

Myrtha lächelte und schüttelte den Kopf. „Leider ist mir die Frau noch nicht über den Weg gelaufen, die mich dazu bringt alles um mich herum zu vergessen."

Gregoris Atem schien auszusetzen, als Myrtha die Worte zitierte, die er selbst vor wenigen Tagen benutzt hatte.

„Mir scheint, dass du immer mehr von deiner Umgebung vergisst, wenn Ari in der Nähe ist."

~

Ohne ein Geräusch zu verursachen schloss Ari das Buch. Sie hatte die zweite Nymphengeschichte zu Ende gelesen. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Diese Geschichte war anders gewesen, nicht die heile Welt wie bei der ersten. Dennoch hatten die Liebenden am Schluss den Weg zueinander gefunden.

Die Liebenden, dachte Ari und beobachtete die ersten Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Es war Nachmittag und durch die dichten Wolken setzte die Dämmerung bereits ein.

Nur am Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte Ari, dass Gregori Magie aus ihrem Inneren entwendete. Seit dem Frühstück hatte sie ihn nicht mehr gesehen – er hatte sich sprichwörtlich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Myrtha hatte mit den Schultern gezuckt und ein Tablett mit seinem Mittagessen vor seine Tür gestellt, als er nicht geöffnet hatte.

Ari fand es ungemein interessant, welch verschiedene Gefühle dieser Mensch bei ihr auslöste. Verwirrung, Wut, Enttäuschung, Kränkung und langsam einsetzende Resignation. Aber nicht nur die negative Seite ihrer Gefühlswelt schob sich in ihr Bewusstsein. In den letzten Tagen hatte sie auch Freude verspürt. Ebenso wie Glück, Zufriedenheit, Belustigung, Geborgenheit und Wärme.

Ari seufzte leise. Sie hatte zwar schon immer gefühlt, doch so intensiv war es bisher nicht gewesen. Auf die momentan vorherrschende Emotion hätte sie jedoch getrost verzichten können: Niedergeschlagenheit.

Wieder kamen ihr die Zeilen aus der Geschichte in den Sinn, in denen sich Lurri und Elija wiedergefunden hatten. Sie hatte beim Lesen nicht verhindern können, dass sie sich in die Lage der beiden Hauptfiguren hineindachte. Dabei hätten die Nymphe und sie unterschiedlicher nicht sein können.

Während Lurri trotz ihrer prekären Situation furchtlos in die Welt gezogen war, saß Ari hier in ihrem Zimmer – allein. Statt der couragierten Frau saß eine unsichere Person in dem Sessel am Kamin.

Du vergisst einen entscheidenden Unterschied, murmelte die Stimme der Tatsachen in ihrem Kopf.

Ja, pflichtete die Vernunft bei.

Ari lächelte freudlos. Ihr habt recht. Während Elija der Geliebte von Lurri ist, ist Gregori lediglich der Magiebegabte, der Energie von mir bezieht.

Erschöpft schloss sie die Augen und berührte die drei kleinen Ohrringe.

Mehr nicht.

~

Es klopfte leise an Gregoris Tür, als er das letzte Dokument auf die Seite legte. Es wurde draußen bereits dunkel und seine Augen schmerzten. Ebenso wie sein Kopf, seine Gelenke und sein Geist. Alles fühlte sich geschunden und zerschlagen an. Ein Teil kam von der harten Arbeit, zu der er sich erbarmungslos gezwungen hatte. Der andere Teil lag an ihm – an ihm ganz allein.

„Herein", sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte gewusst, dass es Myrtha war, noch ehe die Frau die Tür nur einen Spalt breit geöffnet hatte. Auf ihren Stock gestützt trat sie ein und betrachtete Gregori nachdenklich.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich bei deiner Erziehung falsch gemacht habe", sagte sie und schüttelte über sich selbst den Kopf. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich dich gar nicht kenne."

„Großmutter, was willst du mir sagen?" Gregori rieb sich eine Schläfe, doch die Schmerzen wurden deswegen nicht besser.

„Du benimmst dich unmöglich."

„Du verstehst das nicht Myrtha", wandte er ein. Er wusste auf was seine Großmutter hinauswollte. Das Problem war nicht nur, dass sie nicht verstand, sondern er auch nicht.

Der Stock klopfte leise auf dem Boden, als Myrtha zum Schreibtisch hinüberging. „Ich habe Ivina heute Morgen das Versprechen abgenommen, dass sie schweigt."

„Meinst du das nützt etwas?"

„Gregori, sieh doch nicht alles so schwarz", seufzte Myrtha und blieb neben seinem Stuhl stehen. „Wir sollten ohnehin Mr Adveralsa von Aris Erwachen in Kenntnis setzten."

Gregori sah sie stumm an, ehe er nickte. „Ich weiß. Aber Ari soll entscheiden, wann es soweit ist."

„Ach, jetzt hat sie auf einmal auch ein Mitspracherecht."

„Myrtha", sagte Gregori drohend und sah die alte Frau streng an.

Deren braune Augen starrten zurück und sie hob lediglich eine Augenbraue. „Langsam habe ich das Gefühl, dass du dich für Männer interessiert."

„Großmutter!"

Myrtha lachte, als sie Gregoris geschocktes Gesicht sah. Liebevoll tätschelte sie seine Schulter.

„Schon gut, ich habe es nicht ernst gemeint." Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck verschwand und Gregori meinte in ihrem Gesicht noch einige Falten mehr zu entdecken. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging zur Tür.

„Du solltest noch etwas essen. Ich habe sehr wohl bemerkt, dass du den ganzen Tag gearbeitet hast."

„Ja Myrtha."

„Braver Junge." Die Hand bereits auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Lass nicht zu, dass du dir selbst das Leben nur noch schwerer machst."

Ohne auf eine Antwort zu warten ging Myrtha hinaus und ließ ihren Enkel mit seinen Gedanken wieder allein.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt