52 ~ Die Zukunft

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Sie kam unvorhergesehen, aber Hanna wusste sofort, was mit ihr geschah. Es war dieses seltsame Gefühl das sie befiel, wenn eine Vision sich ihres Geistes bemächtigte. Unbewusst lieh sie sich Magie von Lorlens Träumer und blickte in die Zukunft.

Die Umgebung kam Hanna seltsam vertraut vor, als sie die Augen öffnete. Als durchscheinender Schatten befand sie sich in einem blühenden Garten. Warme Sonnenstrahlen erhellten die Szene und ein sanfter Wind ließ die Blätter der Bäume und Büsche rauschen. Hanna fühlte den Frieden, den dieser Anblick ausstrahlte. Ihr Blick wurde von zwei Kindern angezogen, die im Schatten eines der Bäume im Gras spielten.

„Das ist gemein! Du weißt genau, dass ich ohne Mamas Helfer das nicht kann", quengelte eines der Mädchen. Das dunkle Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten wirkte sie unendlich niedlich, als sie einen Schmollmund zog. Ihre Spielgefährtin hingegen grinste über das ganze Gesicht.

„Das ist eine faule Ausrede!", quiekte sie vor Freude und ließ die Bauklötze vor sich in der Luft herumfliegen. Hanna spürte ganz deutlich die Magie, die dabei zum Einsatz kam.

Moment, dachte Hanna, kniff die Augen zusammen und sah beide Kinder genauer an. Das Mädchen, das mit seinen telekinetischen Kräften spielte, hatte rotblondes Haar und ungewöhnlich grüne Augen. Doch noch ehe sie ihren Gedanken zu Ende denken konnte, wurde ihr Geist weitergezogen, hinein in eine neue Vision.

Doch dieses Mal war es klein friedlicher Anblick, der sich ihr bot. Sie war in einem dunklen Raum und die Luft war geladen mit Spannung und Angst. Kleine Blitze zuckten durch das düstere Zimmer und lenkten Hannas Aufmerksamkeit auf eine Person nicht weit von ihr. Es war eine gesichtslose Gestalt, von der elektrische Entladungen zur Decke und zu den Wänden sprangen. Hanna wurde fast schlecht von dem Übermaß an Magie, das zusätzlich zu der Spannung die Atmosphäre auflud.

„Geht es Ihnen gut Lady?", fragte Simon und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. Erschrocken zuckte Hanna zusammen und sah ihn mit großen Augen an.

„Habe ich Sie gestört?"

„Nein, schon in Ordnung", beeilte sich Hanna zu sagen und sammelte sich schnell wieder. Es dauerte einige Augenblicke und sie musste oft blinzeln, ehe sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst war.

„Vielen Dank Simon", sagte Hanna und nahm lächelnd die Teetasse entgegen, die ihr der Butler reichte. Der Mann war so pünktlich mit dem Nachmittagstee, dass es fast unheimlich war. Er erwiderte ihr Lächeln und seine blauen Augen funkelten verschmitzt.

„Es ist schön, wenn eine Lady im Haus ist."

Hannas Lächeln verrutschte und sie kaschierte es, indem sie über den dampfenden Tee blies. „Das dürfte ja öfter der Fall sein", murmelte sie in ihren nicht vorhandenen Bart.

Dennoch hatte Simon sie gehört – natürlich. Dienstboten hatten allesamt überall auf der Welt Ohren wie Rhabarberblätter. Sie hörten, sahen und wussten fast alles.

„Keines Wegs, Lady Filimet. Seit die Eltern von Sir Gratiam ausgezogen sind, hatten wir hier keine Dame mehr zu Besuch."

Aufmerksam reichte er ihr das Zuckerdöschen. „Nun, bald werde ich auch nicht mehr da sein."

Simon wirkte betroffen. „Wollen Sie uns schon verlassen?"

„Ja. Sobald Lady Dulciten wieder wohlbehalten hier ist, werde ich zu meinem Onkel zurückkehren."

„Oh...", sagte Simon und wirkte plötzlich um viel Jahre gealtert. Der treue Diener mit dem ergrauten Haar erschien Hanna auf einmal müde.

Sie verspürte den Wunsch ihn aufzuheitern und sagte: „Aber vielleicht sehen wir uns bald wieder. Mein Onkel hat mir angeboten, mir ein eigenes Haus zu suchen. Er möchte, dass ich meiner Arbeit ungestört nachgehen kann."

Sofort hellten sich Simons Gesichtszüge auf. „Wie umsichtig von Ihrem Onkel. Werdet Ihr euch hier in Drijra nach einer Bleibe umsehen?"

Verlegen wandte Hanna den Blick ab. „Vielleicht."

„Es würde mich freuen", sagte Simon bestimmt und nickte nachdrücklich. „Das Haus war noch nie so voller Leben, wie seit Ihrer Ankunft."

Hanna lachte leise auf. „Ja, da könnte etwas dran sein."

Simon schien ihre Gedanken zu erraten, denn er fügte schmunzelnd hinzu: „Machen Sie sich keine Gedanken. Ich denke, meinem Arbeitgeber scheinen die gelegentlichen Streitereien sogar Freude zu bereiten."

Hanna verschluckte sich und hustete heftig. Umsichtig nahm Simon ihr die Tasse aus der Hand und klopfte ihr leicht auf den Rücken.

„Verzeiht, das wollte ich nicht."

„Schon in Ordnung", krächzte Hanna und versuchte ihre Lunge wieder zu beruhigen. „Ich war ungeschickt."

„Ich wäre untröstlich, sollten Sie an meinem Tee ersticken." Nun musste Hanna lachen. Wie schaffte der Butler es nur immer wieder ihre Stimmung zu heben?

„Sollte ich hierherziehen, könnte ich Sie dann abwerben?"

Entrüstet legte sich Simon eine Hand auf die Brust. „Gute Güte, nein! Ich arbeite schon mein gesamtes Leben für die Familie Gratiam. Außerdem..." Er lächelte verschlagen. „Sir Gratiam wäre ohne mich vollkommen aufgeschmissen."

„Ja, möglich", dachte Hanna laut. Vielleicht würde sie tatsächlich in diese Stadt kommen. Die Landschaft war schön, selbst während eines tiefen Winters. Sie hatte von der Köchin gehört, dass die Sommer sogar noch schöner wären.

Ja, der Gedanke hier zu leben gefiel ihr immer bessern. Natürlich nicht, weil Lorlen hier wohnte. 

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt