39 ~ Familientreffen

27 2 0
                                    

Es war überwältigend, geradezu umwerfend und restlos faszinierend. Aber das Erstaunlichste war, dass es keinen Schnee gab. Die Landschaft war grün und überall blühten Blumen, die Bäume trugen Früchte und durch die Luft flogen singende Vögel. Der von der Sonne gewärmte Kies knirschte unter Aris Schuhen, als sie den Landungssteg verließ.

Natalia Insidior lächelte sie an. „Ich hoffe, Sie haben auch leichte Kleidung dabei. Es tut mir leid, dass ich es Ihnen vergessen habe zu sagen. Hier ist es immer Sommer."

„Warum?", fragte Ari interessiert und versuchte nicht mit offenem Mund die Landschaft zu bestaunen. Gemeinsam gingen sie zu einer offenen Kutsche, die bereits auf sie wartete.

„Unsere Welt besteht aus Magie, wie Sie vermutlich schon wissen. Hier ist alles mit dieser Energie durchtränkt: Pflanzen, Steine, das Erdreich, alle Tiere und selbst die Luft."

„Wir können unsere Umwelt dadurch direkt beeinflussen", fügte Eriel hinzu.

Ari versuchte das Schaudern zu unterdrücken, das sich beim Klang seiner Stimme in ihr regte. Sie klang so tief, dass es eigentlich unmöglich sein sollte. Zusammen mit seinem pechschwarzen Haar und den grauen Augen wirkte er... gespenstisch.

Ari riss sich zusammen und konzentrierte sich auf das Gespräch, anstatt auf den unheimlichen Wissenschaftler. „Aber ist es nicht gefährlich, so massiv in die Natur einzugreifen?"

„Nein", antwortete die Ratsfrau und setzte sich in die Kutsche. „Die höher entwickelten Tiere tun es auch, wenn auch nicht in großem Stil."

Ari streifte ihre Handschuhe ab und öffnete ihren Mantel. „Welcher Emendi sorgt hierfür?"

„Ich, zusammen mit den anderen Ratsmitgliedern. Da unsere Magiequellen am stärksten sind, können wir mit relativ wenig Aufwand die Kontrolle über das Wetter übernehmen."

Gedankenversunken nickte Ari. Es wurde ihr immer klarer, warum die Träumer nicht in dieser Welt bleiben konnten. Allesamt waren sie stärker als die Ratsmitglieder und könnten so alles ins Chaos stürzen.

Unauffällig berührte Ari ihr Brustbein und versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Der stechende Schmerz ließ langsam nach und verwandelte sich in ein monotones Wummern in ihrer Brust. Die plötzliche Qual, die sie beim Durchschreiten des Diacre überrollt hatte, hatte eine gähnende Leere in ihrem Bewusstsein hinterlassen. Genau an der Stelle, an der sie zuvor noch mit Gregori verbunden gewesen war.

Die Kutsche setzte sich ruckelnd in Bewegung und brachte sie einer Stadt näher, die dreimal so groß war wie Drijra. Sanft schmiegten sich an einen Hügel zahllose Häuser, die Dächer mit Schindeln in allen Rot- und Brauntönen gedeckt. Auf dem höchsten Punkt der natürlichen Erhebung thronte ein Komplex aus hohen Gebäuden, ganz aus ockerfarbenem Stein gefertigt. Sie waren noch viele hundert Meter von dieser Stadt entfernt und doch wirkte sie riesig und wie ein Labyrinth.

Aber Ari konnte sich nicht lange mit diesem beeindruckenden Anblick beschäftigen. Sofort kehrten ihre Gedanken zu Gregori zurück. Seltsamerweise hatte sie gewusst was passierte, als das Band sich gelöst hatte. Sie war erschrocken und dennoch war ihr klar gewesen, warum es geschah. Dieses mysteriöse Wissen beunruhigte sie fast so sehr, wie es die fehlende Verbindung tat.

Ich werde zurückkehren, dachte sie und sprach sich selbst Mut zu.

Sie wollte nicht wie ein verschrecktes kleines Mädchen wirken, wenn sie ihren Artgenossen in ihrer eigenen Welt gegenübertrat. Sie wollte helfen und sich nicht selbst bemitleiden, nur weil sie sich einsam fühlte – und schuldig. Schuldig, weil sie vielen Menschen Probleme und Unannehmlichkeiten bereitete. Gregori, Myrtha, Lorlen und Hanna wären ohne ihr Erwachen nicht in solche Aufregung versetzt worden.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt