Silas zog die Nase kraus, doch Ilka ließ sich nicht täuschen. Sie kannte ihren Jungen zu gut, als dass sie diese Geste hinters Licht führen konnte. Sie wusste genau, dass ihrem Sohn die Geschichte gefiel, die Ari ihm vorgelesen hatte.
Er behauptete zwar, dass dieser „romantische Kram nur etwas für Mädchen war", aber Ilka wusste es besser. Sie würde ihn jedoch nicht mit der Nase darauf stoßen. Auch Ari schien zu merken, dass er flunkerte.
„Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende", sagte sie lächelnd und schlug das Buch zu. Ilkas Herz klopfte schmerzhaft, als sie ihre beiden Kinder auf dem Bett sitzen sah. Silas war bereits in seinem Schlafanzug und lag unter der Decke, während Ari sich auf die Bettkante niedergelassen hatte. Von ihrem Platz am Fenster hatte Ilka beide beobachtet. Es gab ihrer Seele endlich Frieden, beide so zu sehen.
Auf diesen Frieden hatte sie nie gehofft. Ihr Mann Zavir und sie hatten sich so sehr auf ihr erstes Kind gefreut, dass es sie schwer getroffen hatte, dass Ari eine Träumerin sein sollte. Bis zum letzten Augenblick hatte sie gehofft, dass die Ärzte und alle anderen sich irrten. Doch vergeblich. Ihr hübsches kleines Mädchen würde nie von selbst die Augen öffnen, sie niemals Mama nennen. Ihr Herz war an diesem Tag ein Stück gebrochen. Sie hatte schreckliche Schuldgefühle gehabt, nachdem sie ihr Kind hatte weggeben müssen.
„Es muss so sein. Weine nicht mein Schatz", hatte Zavir gesagt und sie in den Armen gehalten. Ein weiterer Stich durchzuckte Ilkas Seele. Ihr geliebter Mann würde nicht sehen, dass seine Tochter zu einer schönen Frau herangewachsen war – dass sie aufgewacht war.
Sie hat deine Augen, dachte Ilka und verscheuchte die Trauer. Sie sollte nicht Trübsal blasen, denn ihr war ein großes Geschenk gemacht worden.
„Mama, hörst du nicht?" Silas Stimme ließ sie überrascht blinzeln.
„Bitte?"
„Ich habe dich gefragt, ob wir morgen die nächste Geschichte lesen können." Ilka lächelte und erhob sich. Neben dem Bett blieb sie stehen und sah zwischen Ari und Silas hin und her.
„Das musst du deine Schwester fragen."
„Können wir?"
Ari lachte leise und Ilkas Herz tanzte vor Freude. Ihre Tochter war keine teilnahmslose Person mehr, sondern eine lachende, redende und handelnde junge Frau.
„Sicher, wenn du möchtest." Silas nickte und strahlte über das ganze Gesicht.
„So, nun musst du aber schlafen", sagte Ilka.
„Ach Mama..."
„Keine Widerrede." Geschlagen ließ sich ihr Sohn in die Kissen zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Schlaf gut", sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. Ari wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht und sie verließen das Zimmer.
Schweigend gingen die beiden Frauen den Gang hinunter. An ihrem Zimmer blieb Ari stehen und drehte sich zu Ilka um.
„Das war sehr schön", sagte sie und lächelte.
„Ja, vielen Dank. Ich denke, Silas hat es auch gefallen." Ari nickte und sah auf das Buch in ihren Händen. Ilka war nicht entgangen, dass sie es wie ihren Augapfel hütete. Sie musste diesen Gregori wirklich sehr gern haben.
„Ehrlich gesagt, hatte ich Angst hierher zu kommen. Als Lady Insidior mir sagte, dass ich zu meiner Familie gehen würde..." Ari brach ab und sah Ilka an. Deutlich konnte sie die Unsicherheit in den blassblauen Augen der jüngeren erkennen.
„Ja?", ermutigte Ilka sie zum Weitersprechen.
Ihr Herz klopfte hart gegen ihren Brustkorb, als Ari ihre nächsten Worte formulierte. „Ich dachte, ich wäre hier nicht willkommen."
„Unsinn!", entfuhr es Ilka und sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Ja, das habe ich auch gemerkt." Ari lächelte sanft.
„Du bist hier immer willkommen." Ilka legte eine Hand an die Wange ihrer Tochter und sah sie liebevoll an. „Ich bin so froh, dass du wach bist."
„Ja, ich auch", erwiderte Ari. „Schlaf gut... Mama."
Ohne es zu wollen traten Ilka bei diesen Worten Freudentränen in die Augen. „Du auch, mein Kind."
Sanft küsste sie Ari auf die Stirn.
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Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...