50 ~ Mitleid

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„Er wirkt müde."

Hannas Worte hallten unnatürlich laut in der Bibliothek wider. Gregori hatte sich vor wenigen Minuten zurückgezogen. Lorlen sah von seinem Buch auf und hob fragend eine Augenbraue.

„Schau nicht so, du hast es doch sicher auch schon bemerkt."

Ungehalten über Lorlens scheinbares Desinteresse an seinem Freund erhob Hanna sich und räumte ihr Buch auf. Manchmal fragte sie sich, ob er nur so tat oder wirklich schwer von Begriff war.

„Wenn du damit seine nächtlichen Wanderungen durch sein Zimmer meinst oder seine Ruhelosigkeit, dann habe ich es wohl bemerkt."

Interessiert drehte Hanna sich um. „Und?"

„Was und?"

Sie atmete schnaubend aus. Konnten sie denn kein Gespräch führen, ohne dass sie ihm am liebsten den Hals umdrehen würde?

„Was sollen wir dagegen tun?", fragte sie schließlich und widmete sich der Suche nach einer neuen Lektüre. Sie hörte hinter sich, wie Lorlen sein Buch zuschlug.

„Wir können dagegen gar nichts tun. Das einzige, was ihm helfen könnte, wäre Aris baldige Rückkehr."

Regungslos verharrte Hannas Hand auf einem Buchrücken – genau das hatte sie sich auch gedacht. Ihre närrische Hoffnung, Lorlen könnte vielleicht einen anderen Weg gefunden haben, zerplatzte wie eine Seifenblase.

Ein anderer Gedanke drängte sich ihr mit Macht auf, sie konnte ihn einfach nicht ignorieren. Ihre Brust wurde ihr eng, als sie die Worte in Gedanken formulierte. „Er liebt sie wirklich, nicht wahr?"

Lorlens Antwort war pragmatisch, kurz und trotzdem sagte sie alles: „Ja."

Ein kleines Lachen entrang sich Hannas Kehle, erfüllt mit Schmerz und Freude zugleich. „Es ist nicht fair, dass sie getrennt wurden."

Lorlen erhob sich aus seinem Sessel und stellte sein Buch ebenfalls wieder ins Regal. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er sich mit der Schulter an das Möbelstück lehnte und sie ansah.

„Das Leben ist selten fair." Sein Blick glitt zu ihrer Schulter und Hannas Magen verkrampfte sich.

„Ich will dein Mitleid nicht", würgte sie aus zugeschnürter Kehle hervor. Es war schwer, den Tränen hinter ihren Augen den Weg ins Freie zu verwehren.

Es war so lange her und trotzdem schmerzte der Verlust ihrer Eltern wie am ersten Tag. Sie erstickte fast an dem Schluchzen, das in ihr aufstieg. Ihre Trauer war eine eiserne Klaue, die ihr Herz unerbittlich in seinem Griff gefangen hielt. Sie ließ ihr keine Ruhe und erwischte sie immer dann am schlimmsten, wenn sie sich ohnehin schrecklich fühlte.

Ein leises Aufkeuchen neben ihr durchbrach den dichten Schleier ihres Schmerzes. Sie wandte ihren Kopf zur Seite und sah in Lorlens geweitete Augen.

„Du hast gelauscht?", flüsterte sie schwach und ihr Herz setzte vor Panik einige Schläge aus, nur um danach wie verrückt zu rasen.

„Es tut mir leid, es war keine Absicht."

„Was war es dann?" Lorlen wirkte betroffen und wandte den Blick ab. Hanna stutze – warum wich er zurück? Sonst war keine Gelegenheit zu einem Streit zwischen ihnen ungenutzt geblieben.

„Es ist schwer für einen Telepaten, nicht ab und zu einen Gedanken oder ein Gefühl aufzuschnappen. Ich habe deinen Schmerz lediglich gefühlt, weil ich nah genug bei dir stehe."

Instinktiv machte Hanna einen Schritt zurück. Lorlen quittierte ihre Reaktion mit einem freudlosen Lächeln. Mit ruhigen Bewegungen nahm er ein Buch und setzte sich wieder.

„Keine Sorge, ich will dich nicht bemitleiden", sagte er und Hanna war überrascht, nicht den leisesten Anflug von Spott wahrgenommen zu haben.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt