57 ~ Gewaltvolle Visionen

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Schockiert beobachtete Lorlen, wie Hanna von einem Augenblick auf den anderen blass wurde und in sich zusammenklappte. Gerade noch rechtzeitig bewegte er sich und fing sie auf, bevor sie auf den harten Holzplanken aufschlug. Ihr ohnehin schlanker Körper wirkte fragil und zerbrechlich, ihre blauen Augen waren seltsam verdreht und sie zitterte unkontrolliert. Bei ihrem Anblick vergaß Lorlen den bohrenden Schmerz, den das zerrissene Band zu seinem Träumer hinterlassen hatte.

Vorsichtig legte er sie auf den Boden. Wenigstens mussten sie sich hier keine Sorgen machen, dass sie auskühlte. Statt Schnee war hier überall Sonnenschein und die Temperaturen waren angenehm warm.

„Das ist schlecht", sagte Gregori und kniete sich neben ihm hin.

„Wir haben ihr doch gesagt, sie soll sich konzentrieren", murmelte Lorlen und starrte Hanna wütend an.

„Sagt derjenige, der sie wieder einmal aus der Fassung gebraucht hat."

Lorlen brummte lediglich, denn widersprechen konnte er seinem Freund nicht. Es war ernüchternd, wie klar Gregori die Dinge manchmal erkannte.

Lorlens Gedanken wurden unterbrochen, als Hanna hörbar einatmete und die Augen aufschlug. Gehetzt starrte sie Lorlen an, der einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.

„Lass mich los, sofort!", forderte sie mit angstverzerrter Stimme.

„Hanna...", setzte Lorlen in beruhigendem Ton an, doch sie schüttelte nur hektisch den Kopf und wand sich aus seinem Griff.

„Fass mich nicht an!"

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung beobachtete Lorlen, wie sie sich einem verängstigen Kind gleich in den Stoff von Gregoris Mantel krallte und ihr Gesicht an seine Brust drückte.

„Sch sch... Ganz ruhig Hanna", murmelte der andere Conex und legte behutsam seine Hände auf ihre Schultern. Die Blicke der Männer trafen sich über Hannas Kopf hinweg und sie knüpften eine mentale Verbindung.

„Was sollte das?", fragte Lorlen und er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme gekränkt klang. Er hasste sich dafür. Hasste es, dass er von ihrer Reaktion derart betroffen war. Hasste sich selbst, weil ein widerwärtiger kleiner Teil seiner Seele Gregori verletzen wollte.

Unwissend über das, was sich in Lorlens Unterbewusstsein abspielte, antwortete Gregori: „Ich bin mir nicht sicher. Sie fühlt sich an, als hätte sie Visionen." Sein Gesicht wurde ernst und er rieb vorsichtig über ihre Arme. „Und nicht nur einfach eine Vision, sondern zahllose hintereinander."

„Wir müssen es aufhalten", sagte Lorlen und schob das Chaos in sich beiseite. Wenn Hanna so weitermachte, würde sie innerhalb weniger Minuten bewusstlos werden. Niemand konnte sagen, ob ihre Gabe auch dann noch weitermachen würde.

Plötzlich war Lorlen froh, dass sie so etwas schon bei Gregori getan hatten. Es vereinfachte ihr jetziges Vorhaben, Hanna von der allgegenwärtigen Magie abzuschirmen. Er fühlte auch in Gregori diese Erleichterung, als sie behutsam ein Netz um Hannas Bewusstsein woben.

Es kostete Lorlen mehr Anstrengung als gedacht, sich von ihren oberflächlichen Gedanken und den darin befindlichen Visionen fernzuhalten. Es war verlockend, doch sein Ehrgefühl und Gregoris mahnender Blick hielten ihn davon ab.

~

Es war ein ekelhaftes Gefühl, das sich Hannas Körper bemächtigte. Wie tausend glühende Ameisen, die sich mit ihren scharfen Zangen über jeden Quadratzentimeter ihrer Haut hermachten. Ganz zu schweigen von dem Schwindel, der sie unerbittlich gefangen hielt. Ihre Visionen kamen so dicht aufeinander wie die Perlen einer Schnur. Ihr Bewusstsein hatte kaum die Chance, die einzelnen Sequenzen und deren Informationen aufzunehmen. Es war ein wilder Wirbel aus Bilder, Emotionen und Gesprächsfetzen.

Dennoch war Hanna froh, dass es sich ausschließlich um Bruchstücke aus Gregoris Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft handelte. Zeit war an sich eine Illusion, sie war wie dünne Pergamentseiten in einem Buch. Wenn man genau hinsah, konnte man die Worte der vorigen und kommenden Seite durchschimmern sehen.

Hanna kam es im Moment allerdings eher vor wie Konfetti, ein einziges Durcheinander. Sie sah Gregori als Kind, dann als alten Mann, dann an Aris Bett, schließlich mit einem Kind auf dem Schoß und dann wieder als junger Erwachsener neben seiner Großmutter.

Sie war so erleichtert gewesen, dass sie sich von Lorlen losgelöst hatte, dass sie nun nicht wusste, ob sie sich allein gegen die eindringende Magie wehren konnte. Sie fühlte sich wie ein winziges Loch in einem Staudamm, durch das sich eine ungeheure Menge Wasser hindurchzwängen wollte. Ihr Gehirn fühlte sich geschwollen und aufgedunsen an, sie würde schreckliche Kopfschmerzen bekommen.

Doch dann, aus heiterem Himmel, hörte es auf. Die unerwartete Stille in ihrem Kopf wirkte ohrenbetäubend nach dem vorangegangenen Wirrwarr. Verstört blinzelte sie und bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Hände in Gregoris Mantel gekrallt hatte. Mit einem unangenehmen Gefühl hob sie den Kopf und sah den blonden Conex an. Dieser lächelte freundlich und ließ die Hände sinken, die eben noch auf ihren Schultern gelegen hatten.

„Hallo Hanna", sagte er und musterte eingehend ihr Gesicht.

„Geht es dir gut?" Diese Frage kam von Lorlen, der hinter ihr auf dem Boden kniete. Langsam, damit sie von dem entsetzlichen Schwindelgefühl nicht überwältigt wurde, drehte sie den Kopf und sah ihn an. Irritiert bemerkte sie die Sorgenfalten auf seiner Stirn und den wachsamen Ausdruck seiner haselnussbraunen Augen.

„Also... Gut nicht, aber besser. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und fühle mich, als hätte mich jemand durch den Fleischwolf gedreht."

„Kein Wunder, deine Fähigkeiten haben dich in kurzer Zeit sehr strapaziert", sagte Gregori und half ihr auf. Nun wurde ihr doch schwindlig und sie begann bedrohlich zu schwanken. Wieder stützten sie zwei Arme und dieses Mal konnte sie es zulassen, dass Lorlen sie berührte. Auch wenn sie sich seiner Nähe deutlich bewusst war. Sie nahmen ihr Gepäck und machten sich auf den Weg.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt