47 ~ Im Labor

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Sir Eriel glitt durch Aris Gehirn wie ein seelenloser Schatten. Im Gegensatz zu allen anderen, mit denen Ari bereits mental kommuniziert hatte – ob Emendi oder Mensch – hatte dieser Mann keine telepathische Erscheinung. Er war diffuser Nebel, der durch ihre Gedanken waberte und nicht als Persönlichkeit zu erkennen war. Es war gespenstisch und Ari musste sich sehr konzentrieren, um ihn nicht aus ihrem Kopf heraus zu schleudern. Ihre natürlichen Reflexe wollten sie dazu zwingen.

Sie konnte die Zeitspanne nicht abschätzen, die vergangen war, seit die angefangen hatten. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem Emendi, der ihr bewusstes und unbewusstes Denken wie einen Kleiderschrank durchstöberte. Hin und wieder machte er sich Notizen, nickte oder rieb sich nachdenklich das Kinn. Wenigstens ihre momentanen Gedanken ließ er in Frieden – trotzdem kam sich Ari splitternackt und schutzlos vor.

Vage war sie sich bewusst, welchen Teil ihrer Psyche er gerade unter die Lupe nahm. Er hatte wirklich bei Null angefangen – bei dem Tag, als sie die Träumerin einer alten Dame geworden war. Ari war sehr jung gewesen und erinnerte sich selbst nur verschwommen daran. Sie war eine betagte Perveo gewesen, die sich auf die Erbauung von Brücken und dergleichen spezialisiert hatte. Ihr Gesicht fiel ihr nicht mehr ein, aber der Tag ihres Todes war in ihr Gedächtnis eingebrannt worden.

Sie hatte noch vor allen anderen gemerkt, dass die Zeit der alten Dame abgelaufen war. Tage zuvor waren viele Menschen immer wieder in Aris Zimmer gewesen und hatten geredet. Als die Perveo schließlich ihr Leben ausgehaucht hatte, war Ari nur wenige Stunden später zu einem jungen Mederi gebracht worden.

An ihn konnte sich Ari fast gar nicht erinnern. Sie war bereits vierundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie ohne Vorwarnung von ihm getrennt worden war – und sie zu Gregori kam. Ab diesem Zeitpunkt war ihre Wahrnehmung besser geworden, ihre Erinnerungen waren klarer. Sie hatte wesentlich mehr von seinem Innenleben mitbekommen, seine Präsenz in ihren Gedanken und das Band waren intensiver gewesen als bei den beiden Magiebegabten vor ihm. Und irgendwann hatten diese Träume angefangen, die nächtlichen Treffen auf der Wiese unter dem Baum.

Ari unterdrückte die emotionale Reaktion, die sie bei diesen Erinnerungen überkam. Sie wollte nicht, dass Eriel es bemerkte. Ihr Unterbewusstsein weigerte sich, dem Fremden diese durchaus intimen Momente zu offenbaren.

Er blättert in mir ohnehin wie in einem offenen Buch, dachte sie missmutig und versuchte ruhig zu atmen.

Ihr schien es, als wären wieder Stunden vergangen, als er sich endlich wieder in seinen eigenen Körper zurückzog. Ari blinzelte einige Male und lockerte unauffällig ihre Muskeln in den Schultern. Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie fest, dass auch Eriel verspannt zu sein schien.

„Also...", setzte er an und sah dann wieder auf seine Notizen. Er wirkte nicht länger selbstsicher, sondern irgendwie beunruhig.

„Stimmt etwas nicht?", hakte Ari nach und sah ihn genau an.

„Nun, Ihre Psyche ist wirklich erstaunlich. Bisher war uns nicht klar, wie Träumer ihre Umwelt sehen oder wahrnehmen. Wir müssen vieles überdenken, dass wir als Tatsachen angesehen haben."

„Haben Sie schon einen Verdacht, warum ich bisher die erste bin, die aufgewacht ist?"

Eriel holte tief Luft und studierte nochmals seine Aufzeichnungen – es waren mindestens drei Seiten, geschrieben in kleiner Schrift.

„Tut mir leid, ich kann noch nichts dazu sagen. Ich muss erst in einigen Büchern nachsehen, bevor ich mit Gewissheit eine Theorie aufstellen kann."

Ari hätte am liebsten frustriert ausgeatmet. Warum sagte er ihr nicht gleich, dass er keine Ahnung hatte? Irgendwie war sie enttäuscht, weil diese unangenehme Prozedur zu keinem Ergebnis geführt hatte.

Till I Wake UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt