Fasziniert beobachtete Ari, wie sich Gregoris Brust im Feuerschein sacht hob und senkte. Seine Gesichtszüge waren entspannt, seine Gedanken flossen träge im Schlaf dahin. Lächelnd schloss Ari die Augen und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Er wachte nicht auf, drehte sich lediglich um und schlief seelenruhig weiter, während Ari leise aus dem Bett stieg. Sie liebte es in seiner Nähe zu sein, doch ein anderer Mann rief nach ihr: Lorlens junger Träumer.
Barfuß schlich sie durch das Zimmer, schlüpfte lautlos hinaus und lauschte auf dem Gang nach Geräuschen. Es war mitten in der Nacht und das gesamte Haus schlief tief und fest. Sie lächelte, denn den Gang hinunter entdeckte sie zwei Individuen, die ganz dicht nebeneinander träumten. Es erfüllte sie mit Glück, dass Hanna und Lorlen zueinander gefunden hatten.
Sie haben es verdient, beide, dachte sie. Aber sie konnte nicht ewig hier stehen und sich für die beiden freuen.
So drehte sie sich um und ging zu dem Zimmer am Ende des Gangs. Ihr sechster Sinn verriet ihr zuverlässig, dass der Träumer noch hier war. Warren Filimet hatte zwar für einen anderen Magiebegabten gesorgt, der den Träumer mit Energie versorgte, doch er hatte den Jungen hiergelassen. Dieser Umstand kam Ari ungemein zu gute.
Entschlossen öffnete sie die Tür und trat in den kühlen Raum. Sie war nicht auf das spärliche Licht des Kamins angewiesen, um zum Bett des Emendi zu gelangen. Selbst blind hätte sie diesen kalten Geist gefunden, der zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten gefangen war.
Hilf ihm, drängte die Magie in ihr. Jetzt weißt du wie.
Ari nickte bestimmt – ja, sie wusste wie.
Sie war nicht stolz darauf, wie sie dieses Wissen erlangt hatte. Brutal und grausam hatte sie Eriels Geist dazu gezwungen, ihr diese Informationen vor seinem Tod zu geben. Sie hatte sein Gehirn dabei verstümmelt, ja fast vergewaltigt. Energisch schob sie ihre aufwallenden Schuldgefühle beiseite.
Er hätte mich ebenso getötet, wenn nicht mir sogar noch schlimmeres angetan, sagte sie sich.
Er sah noch genauso aus wie beim letzten Mal, als Ari dieses Zimmer betreten hatte. Blass und ungesund lag er reglos auf dem Bett und hätte er nicht geatmet, hätte man meinen können er wäre eine aufgebarte Leichte.
„Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen", flüsterte Ari und berührte seine Hand. Sie lächelte und verflocht ihre Finger mit seinen. „Aber du kannst es mir sicher bald selbst sagen."
Ihr Lächeln verschwand und sie begann sich zu konzentrieren. Sie bekam eine Gänsehaut, während sie das gestohlene Wissen durchforstete. Ari musste wissen, wie die Verletzungen an seinem Geist entstanden waren, ehe sie sich an deren Heilung machen konnte, auch wenn sie gern darauf verzichtet hätte. Ihr Magen rebellierte, während sie sich Eriels grausame Praktiken besah. Doch es gab keinen anderen Weg, sie musste sich diesem Horror aussetzen.
Entschlossen tastete sie sich zu dem Bewusstsein des Träumers vor, zu diesem faden grauen Raum in seinem Gehirn. Unfreiwillig empfand sie Respekt für Eriel, denn er hatte seine Arbeit wirklich hervorragend gemacht und die Wunden perfekt getarnt. Niemand, der nicht wusste nach was er suchen musste, hätte die verräterischen Schnitte in dem Gehirn des Träumers entdeckt.
Ari hatte Gregori, Hanna und Lorlen angelogen, als sie gesagt hatte, dass lediglich Liebe das Heilmittel für die Träumer war. Selbst Hannas Gehirn hätte sie selbst heilen können, ganz ohne Lorlens Liebe zu ihr. Aber dieser Weg war in der Hinsicht der bessere, weil er nicht nur die Wunden des Geistes heilte, sondern auch die der Seele. Ari konnte nicht sagen, ob der Junge auch emotional gesund wäre, wenn sie es schaffen sollte ihn aus seinem Schlaf zu holen.
Vehement riss sie sich von diesen Überlegungen los, denn sie wusste genau, dass sie nur Zeit schinden wollte. Sie hatte Angst zu versagen, doch früher oder später würde sie es ohnehin herausfinden. Noch einmal atmete sie tief ein und aus, ehe sie Magie aus ihrem Inneren in den Geist des jungen Emendi fließen ließ.
Mit behutsamen Händen strich sie über die winzigen Risse und Narben, animierte das geschädigte Bewusstsein sich selbst zu heilen.
„Wach auf", sprach sie und lockte den Jungen. Immer mehr Magie ging von ihr auf ihn über, formte den Geist des Träumers mit sanften Bewegungen, setzte ihn wieder zusammen, machte ihn ganz.
Nach wenigen Augenblicken, die Ari jedoch wie Jahre erschienen waren, zog sie sich wieder in sich selbst zurück.
„Bitte", flüsterte sie und drückte die Hand des anderen fester. „Du musst aufwachen."
Die Sekunden zogen sich in die Länge, doch nichts regte sich. Ari entfuhr ein Schluchzen und sie ließ die kühlen Finger des Jungen los. Erschöpft und frustriert setzte sie sich auf die Bettkante und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
„Alles umsonst", murmelte sie und fühlte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Die Stille im Zimmer war erdrückend und am liebsten hätte Ari laut geschrien. Müde erhob sie sich und wollte sich vom Bett entfernen, doch ihr Nachthemd hatte sich irgendwo am Bett verfangen und hielt sie zurück. Doch als sie sich umdrehte, um das Stück Stoff frei zu bekommen, blieb ihr fast das Herz stehen.
Zwei hellblaue Augen sahen sie verwirrt an, während eine blasse Hand den Saum ihres Hemds festhielt.
„Ari?", fragte der Junge unsicher und mit belegter Stimme.
Glücklich lächelnd nickte sie und ging neben das Kopfende des Bettes. „Hallo, wie geht es dir?"
„Ich..." Verwirrt runzelte der Erwachte die Stirn. „Gut, danke." Er sah sie offen an und erwiderte zaghaft ihr Lächeln.
„Ich heiße Nathan."
„Freud mich dich kennen zu lernen Nathan."
„Du hast mich aufgeweckt, nicht wahr?"
Ari nickte. Etwas verloren sah sich Nathan im Zimmer um, ehe sein Blick wieder zu Ari zurück glitt.
„Ich bin so müde, aber ich habe Angst." Beruhigend strich sie ihm über die Stirn und meinte, dass er sich viel wärmer anfühlte als noch vor wenigen Augenblicken.
„Keine Sorge Nathan, bei mir war es auch so. Du wirst nie wieder ein Träumer sein. Hab also keine Angst und ruf nach mir, wenn du wieder aufwachst."
Erleichtert nickte der Junge und schloss seine Augen wieder. Ari konnte fühlen, dass sein Bewusstsein nicht mehr in diese unendliche Tiefe der ewigen Träume hinab glitt, sondern dicht unter der Oberfläche verweilte. Ein letztes Mal strich sie über seine Stirn, ehe sie vom Bett zurücktrat. Sie war müde, denn die Heilung seines Geistes hatte sie sehr viel Energie gekostet. Ehe sie ging, warf sie noch einige Holzscheite in das heruntergebrannte Kaminfeuer.
Sie war schon halb eingeschlafen, als sie wieder zu Gregori ins Bett kroch. Träge drehte er sich zu ihr um, zog sie in seine Arme und murmelte: „Wo warst du?"
„Ich habe ihn aufgeweckt."
„Wen?"
Ari lächelte und kuschelte sich an ihren zukünftigen Ehemann. „Nathan."
„Aha...", antwortete Gregori und war im nächsten Moment schon wieder eingeschlafen. Ari war ihm deswegen nicht böse, denn sie vermutete, dass er am nächsten Morgen nichts mehr von ihrem Gespräch wissen würde.
Das macht nichts, dachte sie und gähnte. Er und alle anderen haben genug Zeit, Nathan persönlich kennen zu lernen.
Und mit dem Gedanken, dass wirklich nichts mehr so sein würde wie früher, schlief Ari ein. Wie erstaunlich, wenn man bedachte, dass diese großen Veränderungen nur durch einen flüchtigen Kuss in den Träumen zweier Liebenden ausgelöst worden waren.
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Till I Wake Up
FantasyEin Fluss verbindet zwei Welten miteinander - die der Menschen, in der Magie Mangelware ist, und die der Emendi, die vor Magie gerade so strotzt. Um auch in ihrer Welt Magie zu wirken behelfen sich die Menschen mit sogenannten Träumern: Emendi, die...